//Gespräche

Keine andere Stadt weist aktuell eine so hohe Dichte an relevanten Bands auf wie New York. Vor allem in Brooklyn sind neben größeren Acts wie Animal Collective oder LCD Soundsystem eine ganze Reihe kleiner Punk- und Folkbands wie Vivian Girls, Real Estate oder Woods zuhause. Zu den neuesten Errungenschaften der Szene zählt die Rock-Combo Babies, die von Woods-Gitarrist Kevin Morby und Vivian-Girls-Sängerin Cassie Ramone gegründet wurde. Am 24. März spielte die Band im Marie Antoinette und verriet im Gespräch mit cartouche., wie hohe Mieten die eigene Produktivität fördern können und wer die wichtigsten Akteure der DIY-Szene Brooklyns sind.

In seinem Song „Hard Times In New York Town“ thematisierte Bob Dylan einst sein zwiespältiges Verhältnis zu der amerikanischen Weltmetropole. Zum einen lobte er die Energie der Stadt, zum anderen monierte er den harten Alltag. Ihr wohnt alle in Brooklyn, wie würdet Ihr New York beschreiben?

Cassie: Ich sehe die Stadt ähnlich wie Dylan. New York ist großartig, aber das Leben dort ist sehr hart. Da die Mieten extrem teuer sind, ist man dazu gezwungen ständig produktiv zu sein. In anderen Städten reicht es aus, zwei Tage die Woche arbeiten zu gehen, um die Miete zahlen und sich etwas zu Essen kaufen zu können. In New York City geht das allerdings nicht. Erstaunlicherweise ist es genau das, was die Leute in die Stadt treibt. Viele entfalten unter dem finanziellen Druck erst ihr vollständiges künstlerisches Potenzial, weil sie gezwungen sind in jeden Bereich ihres Lebens kreativ zu sein. Mich persönlich motiviert die Stadt dazu, rauszugehen und Musik zu machen.

Kevin: Du kannst einfach nicht still zuhause sitzen bleiben. Wegen der hohen Mieten bist du dazu gezwungen, dein Leben ständig zu rechtfertigen und hast deshalb den Drang, immer etwas machen zu müssen. Wir haben zwei Monate in Kalifornien gelebt, wo alles viel billiger ist. Dort war es vollkommen okay, mal zuhause zu bleiben und sich zu entspannen. Wenn du das in New York machst, erklären dich die Leute für verrückt.

Ist es trotz des teuren Lebens möglich in Brooklyn von der Musik zu leben?

Cassie: Klar geht das. Man muss sich einfach nur reinhängen. Schau mich an: Mit dem Geld, dass ich mit meinen Musikprojekten verdiene, schaffe ich es problemlos, alle meine Rechnungen zu bezahlen. Zwar habe ich keinen extravaganten Lebensstil, schlecht geht es mir aber trotzdem nicht. Ich bin stolz darauf, mich nie verkaufen oder irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen.

Von außen betrachtet wirkt die Musikszene in Brooklyn sehr lebendig und gut vernetzt. Was ist euer Eindruck?

Cassie: Die Szene in Brooklyn wächst stetig. Widowspeak und Dutch Treat sind zwei neue aufregende Bands aus Brooklyn. Von Big Troubles, Nude Beach und K Holes ganz zu schweigen.

Kevin: Das schöne daran ist, dass fast alle miteinander befreundet sind. Der Bassist der K Holes und Cassie teilen sich ein Studio. Ich wiederum wohne mit unserem Produzenten Jarvis Taveniere zusammen. Jarvis hat außer dem Babies-Debüt auch die Platten der Vivian Girls, von Widowspeak, Real Estate und meiner anderen Band, den Woods, aufgenommen. Er ist ein integraler Bestandteil der Szene.

Wer ist sonst noch wichtig in der Szene?

Cassie: Todd P. ist eine weitere Schlüsselfigur in Brooklyn. Todd ist ein guter Freund von mir und hat sich als Konzert-Promoter einen Namen in der Szene gemacht. Trotz seines Erfolgs versucht er die Konzertpreise billig zu halten und engagiert sich für die Community. Viele Leute sagen: „Oh man, Todd P. kontrolliert alles“, dabei versucht er nur jeden dazu zu bringen das zu machen, was er macht. Er hat anderen Promotern auf die Beine geholfen, ich denke er macht einen guten Job in Brooklyn.

Welche sind die wichtigsten Spots in Brooklyn?

Kevin: Zentrale Clubs wären das Glasslands, Monster Island Basement, Death By Audio und das Market Hotel. Es gibt aber auch Lofts und Lagerhäuser, in denen es regelmäßig Shows gibt. Besonders oft laufen dort Houseparties.

Was sind „Houseparties“?

Kevin: Das sind kleine Gigs, die manchmal in normalen Wohnungen stattfinden und die verrückter und lockerer sind als normale Konzerte. Viele Bands nutzen die Auftritte auf diesen Parties, um runter zu kommen. Es ist genau dieser Vibe, den wir an Brooklyn so sehr mögen.

Links: the babies / woods / vivian girls / dutch treat / widowspeak

(FOTO: JJ WEIHL)

//Sessions

Bob Dylan ist einer der umtriebigsten Künstler der Popgeschichte. Nachdem der Sänger bereits mehrfach sein Talent als Künstler, Dichter und Schauspieler unter Beweis gestellt hatte, schlüpfte er von 2006 bis 2009 in die Rolle des Radiomoderators – mit großem Erfolg. In seiner Sendung Theme Time Radio Hour führte er zu verschiedenen Themen wie “Weather”, “Coffee” oder “Smoking” Musik mit Prosa und Lyrik zusammen, was in der Summe einen eigensinnigen Querschnitt durch die amerikanische Popularkultur ergab. Inspiriert durch Dylans Radioprojekt startet an dieser Stelle die cartouche.-Reihe //Sessions, in deren Rahmen das aktuelle Musikgeschehen kommentiert und dokumentiert werden soll.

American Songbook

Im vorletzten Kapitel seiner Dylan-Biographie Bob Dylan befasst sich Musiktheoretiker Heinrich Detering ausführlich mit Dylans Radioexperiment. Wie er berichtet, hatte Dylan es zum Ziel seiner Sendung erklärt, den musikalischen Horizont seiner HörerInnen zu erweitern. So reichte die Auswahl der Songs von Bigband-Klängen zu archaischen Bluesnummern. Dabei richtete Dylan seine Neugier nicht nur auf die vergessenen Namen, sondern vor allem auf die verlorene Einfachheit der Alten, die seiner Meinung nach von den Modernen vergessen worden ist. Häufig speiste sich die Auswahl aus Schallplatten der jeweiligen musikalischen Gründerzeiten einer Stilrichtung, von New Orleans Jazz über Swing bis hin zum frühen Rock ‚n‘ Roll und zum Punk. Die Figur des Ursprungs fesselte Dylan wie keine andere.

Weiterhin konstatiert Detering, dass Dylans Radiostunden ein American Songbook ergaben, das sich zeitweise am Rand der musikgeschichtlichen Dokumentation bewegte. Sie präsentierten nicht nur nur Blues und Country, Rock ‚n‘ Roll und Western Swing, sondern auch Salsa und Ska, Raggae und Rap, Bigband-Sounds und Bebop. Ausführlich berichtete Dylan dabei von der Entstehung der Songs, von Fassungsunterschieden, vom Leben und Sterben der Musiker und nahm immer wieder Bezug auf große amerikanische Themen. Dylan erzählte von Sklavenmärkten und Rassismus, von drogensüchtigen Sängern, die zugrunde gegangen, und von solchen, die zu vorbildlichen Sozialarbeitern geworden waren, von komischen Typen, von Erfolg und Misserfolg, von Platten-produzenten und Songautoren. Immer wieder gingen diese Bemerkungen beiläufig über in eine Anatomie der Popularkultur der USA. Gemeinsam mit den von ihm ausgewählten Songs kam so eine eigenwillige Geschichte der amerikanischen Songtraditionen zusammen.

Digital Songbook

Angelehnt an Dylans Radioshow sollen in der cartouche.-Reihe //Sessions regelmäßig aktuelle Singles und Alben besprochen, Remixes und Videos verlinkt und Ankündigungen von anstehenden Konzerten und anderen Veranstaltungen zusammengetragen werden. Ergab Dylans Sendung ein eigenes American Songbook, das in sich eine Vielzahl der populären amerikanischen Musik-traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts verband, soll an dieser Stelle ein digitales Songbook entstehen, das zeitgenössische musikalische Phänomene sammelt und reflektiert. Da wir nun schon einmal bei Dylan sind, lautet das Thema der ersten Ausgabe von //Sessions “Coversong”. Dylan selbst war ein Meister der Neuinterpretation. Auf den meisten seiner Alben finden sich Coverversionen bekannter und unbekannter Traditionals, denen er zu großen Ruhm verhalf. Auf der anderen Seite adelten Rockgrößen und Dylan-Fans wie Jimi Hendrix und The Byrds seine Songs “All Along the Watchtower” und “Mr. Tambourine Man”.

//Sessions #1: Coversong

Auf ihrer im Oktober 2010 erschienen Debüt-EP interpretierte die britische Musikerin Annika Henderson alias Anika Dylans Anti-Kriegslied „Masters of War“. Gemeinsam mit Beak>, dem Sideprojekt von Portishead-Drummer Geoff Barrow, machte sie aus dem Stück einen groovenden Dub-Song, der seine Energie aus dem eingängigen Zusammenspiel von Schlagzeug und Bass und Anikas apathischen Sprechgesang bezieht. Dabei beeindruckt vor allem, wie stark Hendersons hypnotisierende Stimme die Wirkung der mahnenden Worte Dylans verstärkt. Das Sample eines US-amerikanischen Soldaten, der über seine Erfahrungen im Irak-Krieg berichtet, verleiht dem ohnehin zeitlosen Song zusätzlich Aktualität. Die Folk-Legende ist aber nicht die einzige namhafte Referenz Hendersons. Auch Yoko Onos „Yang Yang“, Sylvia Dees „End of the World“ und Ray Davies „I go to Sleep“ verpackte sie in ihren minimalistischen Dub-Sound. Dass Henderson mit Dylan und Ono zwei für die Bürgerrechts- und Friedensbewegung so zentrale Figuren auf ihrem Album featured, betont ihre politische Seite. Privat engagiert sich die Sängerin seit einiger Zeit schon in der amerikanischen Menschenrechtsgruppe The Innocence Project, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern bemüht. Zur Zeit ist die Sängerin auf Tour durch Europa, am 24. Mai wird sie in Festsaal Kreuzberg auf der Bühne stehen.

Links: tumblr / bandcamp / last.fm

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Ähnlich hypnotisierend wie Anikas eindringliche Dub-Songs klingt die Inter-pretation der Videokünstlerin Pipilotti Rist des Chris Isaak Songs „Wicked Game“. Statt pathetischen Machogesangs gibt es bei Rist verträumtes Gesäusel und hysterisches Geschrei. Mitte der 90er-Jahre aufgenommen, hat die Interpretation ihre Aktualität nicht eingebüßt. Im Gegenteil ähnelt Rists Lo-fi Sound dem vieler angesagter Dreampop-Acts: Wie Beach House, Soundpool und Memoryhouse setzt Rist auf Reverb-Effekte, lahmende Rhythmen und reverb-beladene Gitarrenriffs. Ihre Coverversion, der sie den programmatischen Titel „I am a victim of this song“ gab, nutzte sie für mehrere Installationen. Zum ersten mal kam das Stück 1995 in einem gleichnamigen Video zum Einsatz, wo es die verwackelten Innenaufnahmen eines Restaurants komplementierte. Das Lied war nicht der erste musikalische Ausflug der erfolgreichen Künstlerin. Von 1988 bis 1994 war Pipilotti Rist Mitglied der Band und Performance-Gruppe Les Reines Prochaines, mit der sie auch einige Platten veröffentlichte.

Links: homepage

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Anlässlich ihrer gemeinsamen Tour durch Europa haben die englischen Bands Porcelain Raft und Yuck eine Split-EP veröffentlicht, für die sie jeweils ein Lied des anderen coverten. Ihr Sound ist state of the art. Während die Musik von Yuck in der Tradition des wieder in Mode gekommenen College-/Indierock der 80er- und 90er-Jahre steht, knüpft Porcelain Raft Mastermind Mauro Remiddi nicht nur klangästhetisch an den Bedroom-Pop der letzten Jahre an. Wie Pat Grossi alias Active Child und Ernest Greene aka Washed Out produzierte auch Remiddi seine ersten EPs komplett auf eigene Faust. Die Übersetzung der Songs in den jeweiligen anderen Soundkontext klingt überzeugend: Verwandelt Remiddi die an Dinosaur-Jr erinnernden Punkgitarren von Yucks „The Wall“  in eine noisige Sägezahn-Fläche, befreien Yuck das Piano in  „Despite Everything“ von seinen schwadigen Filtern und Effekten. Ähnlich gelungen war schon die Remix-EP der beiden amerikanischen Chillwave-Acts Washed Out und Small Black, die sie im Vorfeld ihrer gemeinsamen Europa-Tour auf Lovepump veröffentlichten.

Links: download / porcelain raft / yuck