Im Zuge der digitalen Revolution haben sich die Standards für Musikalben deutlich verändert. Galt es lange Zeit als Tugend, ein Album erst dann zu veröffentlichen, wenn es wirklich fertig war, erscheinen heute immer mehr Alben, deren Qualität sich kaum von der eines Demotapes unterscheidet. Abgesehen davon, dass Ideen nicht ausformuliert werden, ist der Sound schlecht abgemischt, die Instrumente klingen schief.
Als Lo-Fi oder Low-Fidelity wird eine solche Ästhetik bezeichnet. Seit Anbruch des digitalen Zeitalters ist Lo-Fi-Musik zu einem Massenphänomen geworden. Viele KünstlerInnen versuchen erst gar nicht, das nötige Kleingeld für ein großes Aufnahmestudio zusammenzukratzen, sondern nehmen ihre Songs gleich in den eigenen vier Wänden am Computer oder mit einem Kassettenrekorder auf. Digitaler Kommunikationswege sei dank, können sie ihre selbstgemachten Aufnahmen anschließend problemlos verbreiten.
Die U.S.-amerikanische Künstlerin MEGHAN REMY aka U.S. GIRLS kann dieser stetig wachsenden Do-it-Yourself-Fraktion zugerechnet werden. Ihre ersten beiden Alben waren noise-verliebte Schlafzimmer-Produktionen, die klangen, als seien sie lediglich mithilfe eines Diktiergeräts eingespielt worden. Im November vergangenen Jahres legte die Musikerin nach. Auf dem niederländischen Label K-RAA-K veröffentlichte sie ihren dritten selbstproduzierten Longplayer U.S. Girls on KRAAK.
Dort bleibt sich die Musikerin nicht nur treu was die Produktion betrifft, auch in Puncto Songwriting steht U.S. Girls on KRAAK in der Tradition seiner Vorgänger. Wie gehabt verzichtet REMY in den meisten ihrer neuen Stücke auf klassische Lied-Elemente wie Intro, Strophe und Refrain. Stattdessen finden sich dort skizzenhafte Klangkollagen, die sich, wenn sie nicht von einer schnarrenden Rhythmus-Pattern zusammengehalten werden, in dissonantem Geklimper und ekstatischem Noise verlieren.
Ein ähnliches Non-Songwriting zelebrierte die Künstlerin ANNIE SACHS aka TICKLEY FEATHER auf ihrem 2009 bei PAW TRACKS erschienenen Album Hors D’Oeuvres. Genau wie REMY widersetzte sich SACHS dem Diktum Verse-Chorus-Verse zugunsten freierer Formen: Ein Beat, zwei Akkorde und eine Melodie mussten reichen, manchmal sogar ganze fünf Minuten lang. Das kann nerven. SACHS hingegen schaffte es zu begeistern und in einigen Songs sogar zum Punkt zu kommen. Man erinnere sich nur an „Trashy Boys“ mit seiner hymnenhaften Gesangsmelodie.
Auch auf U.S. GIRLS on KRAAK gibt es zwei Stücke, die äußerst straight und weniger kakophon sind als der Rest. Und diese überzeugen auf Anhieb: Da wäre zum einen das Lied „Island Song“, das eine eingängige Melodie besitzt, die zunächst von einem Klavier gespielt und wenig später von REMYS kraftvoller Stimme aufgegriffen und variiert wird. Ungewöhnlich harmonieverliebt klingt auch die wabernde Klangfläche, deren Noise-Level auf ein angenehmes Maß reduziert ist. Der straighte Beat lädt zum Tanzen ein. Ähnlich sieht es bei dem Cover des 90er-R’n’B-Hits „The Boy Is Mine“ aus, dem die Musikerin Mittels Entschleunigung eine imposante Deepness und Epik verpasst hat.
Die beiden Lieder deuten an, wo die Reise bei U.S. GIRLS hingehen könnte. So kann REMY, wenn sie es will, Popsongs schreiben, die von gleicher umwerfender Qualität sind wie die Lieder einer CLAIRE BOUCHER alias GRIMES. Das hat offenbar auch das Label FATCAT erkannt, das die Musikerin Ende 2011 unter Vertrag nahm. Man darf gespannt sein, ob dort unter professioneller Anleitung weitere Stücke à la „Island Song“ entstehen. Zu wünschen wäre es auf jeden Fall.
Links: Bandcamp / Myspace / Kraak
(Foto: FAT CAT)