Sounds

Tracklist:

1. NICHOLAS KRGOVICH – Dreamin‘ Man (NEIL YOUNG Cover)

2. BOBBY BIRDMAN – Surrender (SUICIDE Cover)

3. MY ROBOT FRIEND – Astronaut (feat. DEAN WAREHAM)

4. VIERNES – Ancient Amazon/New Fashion

5. FUXA – Some Things Last A Long Time (DANIEL JOHNSTON Cover/feat. BRITTA PHILIPS)

6. BRANCHES – Canção para o Luís (ROBERT FOSTER Rework)

7. XIU XIU – The Girl Is Mine (PALE MOLESTER Version)

8. GO SUCK A FUCK – Um

9. PLASTIC FLOWERS – In You I’m Lost

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Editorial

Liebe Leser_innen,

Berlin ist eine Stadt, in der vieles gleichzeitig passiert. Das mag reizvoll sein. Genauso schnell kann es aber auch passieren, dass man den Überblick verliert. Das gilt insbesondere für die Kulturlandschaft der Stadt mit all ihren großen und kleinen Nischen. Doch nicht nur Konsument_innen haben mit dem Überangebot zu kämpfen – junge und weniger etablierte Künstler_innen sind davon ebenso betroffen. Viel zu oft gehen sie im Rauschen der Stadt einfach unter, ohne dass jemand Notiz von ihnen genommen hätte. Das ist schade. Schließlich sind gerade sie es, die Bestehendes in Frage stellen und Neues ausprobieren. Eben jenen Berliner_innen wollen wir ab dieser Ausgabe verstärkt unsere Aufmerksamkeit schenken.

Zu den Highlights unserer ersten Berlin-Ausgabe gehört der Musiker DAN BODAN, der in Berlin Zuflucht vor seinem Kunst-Studium gefunden hat. Neben einem einzigartigen Stilbewusstsein verfügt der Kanadier über eine beeindruckende Stimme. Sein Song „Aaron“ ist ein Hit und erschien vor kurzem auf dem New Yorker Label DFA. Wir sind fest davon überzeugt, dass DAN es einmal weit bringen wird und wünschen ihm an dieser Stelle für seine Zukunft alles Gute. Nicht minder vielversprechend ist das Popduo NADINE AND THE PRUSSIANS. Bei NADINE FINSTERBUSCH und BRUNO BAUCH sitzt einfach alles, vom Haarschnitt bis zu den Melodien. Wir haben uns mit den beiden getroffen, um mit ihnen unter anderem über ihre Zukunftspläne zu sprechen. Mit der Experimental-Band MAN MEETS BEAR hingegen führten wir ein unvorbereitetes Interview, in dem es neben den Nachteilen des Berühmtseins auch um ihre Liveshows ging. Diese sind immer ein besonderes Ereignis.

Berlin hat aber nicht nur aufregende neue Musikprojekte zu bieten. Auch in der Modeszene gibt es eine Vielzahl junger Talente. Nachdem wir in der ersten Ausgabe bereits den wundervollen VLADIMIR KARALEEV portraitiert haben, widmen wir uns diesmal der aufstrebenden Designerin REGINA WEBER. REGINA studiert seit einem Jahr Mode an der Kunsthochschule Weißensee und assistiert in ihrer Freizeit der Designerin SISSI GOETZE. Wir freuen uns sehr, euch REGINAS erste selbstentworfene Kollektion präsentieren zu dürfen. Fotografiert hat sie LENNART ETSIWAH, den wir euch im letzten Heft vorgestellt haben. Model gestanden hat ihm PAULINE SCHMIECHEN. PAULINE hat für uns einen Fragebogen über ihre Vorlieben und Interessen in Sachen Mode ausgefüllt.

Ein weiterer Hingucker dieses Hefts ist die Fotostrecke von MATTHIAS HEIDERICH. MATTHIAS hat ein Faible für Gebäude. Wie er uns berichtete, schätzt er an ihnen vor allem ihre Geduld. Im Gegensatz zu lebenden Motiven könne man stundenlang um sie herumschleichen und nach immer neuen Details suchen. Für unsere dritte Ausgabe hat uns MATTHIAS einige Fotos aus seiner Reihe „Stadt der Zukunft“ zur Verfügung gestellt, in der er das Hansaviertel am Tiergarten festgehalten hat.

Bei all der Liebe zu Berlin wollen wir aber das Geschehen außerhalb der Stadt nicht aus dem Blick verlieren. Entsprechend finden sich in diesem Heft Texte, die sich mit Künstler_innen und Phänomenen außerhalb Berlins befassen. Der Berliner DJ WARREN O’NEILL empfiehlt das neue Album des Dancemusic-Produzenten MADTEO, HENNING LAHMANN wiederum hat sich die vier EPs von OLD APPARATUS angehört, einem Kollektiv, dem es durch das Spiel mit Anonymität gelungen ist, Autor_innenschaft zu verwischen. PAUL SOLBACH hingegen geht der Frage auf den Grund, warum sich Black-Metal nicht zum hippen Trend eignet.

Besonders wollen wir uns an dieser Stelle bei den Betreiber_innen des deutsch-portugiesischen DIY-Labels MOUCA, AUGUSTO GÓMEZ LIMA un CHARLOTTE JOHANNA THIESSEN, bedanken, die für uns ein Mixtape zusammengestellt haben. Bands, mit denen sie befreundet sind und die sie sehr schätzen, sind dort vertreten. Herunterladen könnt ihr es euch auf unserer Internetseite www.cartouche-blog.de/mouca.

Es lebe Berlin!

Viel Spaß beim Lesen!

Die Redaktion von CARTOUCHE

Theorie

Kollektives Vergessen

Kultur ist nicht was im Museum steht oder in der Oper aufgeführt wird, Kultur ist was wir daraus machen. Viele von uns haben sich längst von der Idee einer festen Leitkultur verabschiedet und bauen sich mit Filmen, Buttons, Kleidung, Tätowierungen, Büchern und dem eigenen Musikgeschmack einen auf den Leib geschneiderten Bedeutungskosmos auf. Oft vergessen wir dabei um die Geschichte oder ehemalige Bedeutung von Gegenständen, Handlungs- und Verhaltensweisen oder aber beziehen uns ganz bewusst darauf – oft Jahrzehnte später in einem neuen, vielfach kommerziellen Kontext. Aspekte globaler Kulturen leben demnach in ihrer/unserer Praxis und werden dabei fortlaufend umgedeutet. Das Stichwort lautet: Neukontextualisierung. Denn die Dinge sind nicht, was sie sind. Sie sind, was wir denken was sie sind und was wir mit ihnen anstellen.

„…das Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi”

So viel Ehrlichkeit vorweg: fand ich diese im Internet dokumen- tierte Einschreibung im öffentlichen Raum anfangs noch originell, so wurde dieser Eindruck schnell wieder revidiert. Stöbert man nämlich im kollektiven Gedächtnis des Internets, stellt sich diese Aussage als viel und leider oft auch falsch zitierte Plattitüde heraus. Neben oben angeführtem Vergleich tauchen noch Metaphern auf wie „Das Leben ist ein Zeichnen ohne Radiergummi” oder „Das Leben ist Zeichnen ohne Radiergummi”. Wahlweise werden der österreichische Maler und Schriftsteller OSKAR KOKOSHKA oder ein gewisser KEES SNYDER als Urheber angeführt. Dabei scheuen die Zitierenden weder vor der hochintellektuellen Ausformulierung ihrer individuellen Deutungsmuster, noch schrecken sie vor der Instrumentalisierung geliehenen Gedankenguts zur Bewerbung der gnostischen Lehre bzw. zur Aufklärung gegen Schwangerschaftsabbrüche zurück. Zwar kenne ich den genauen Entstehungskontext dieser Aussage nicht, die den Autoren oftmals nicht anführende Reproduktion im Internet und auf bedruckten Radiergummis im Schreibwarenladen jedoch macht den Eindruck, als habe dieser Satz ein „Eigenleben” entwickelt. Losgelöst von seinem ursprünglichen Kontext und der hochkommunikativen, öffentlichen Dynamik einer transformierenden Gesellschaft unterworfen, wird der Satz zum geflügelten Wort.

Dieses Phänomen ist keineswegs einzigartig, sondern vollzieht sich seit jeher mal auffälliger und mal unauffälliger. Eine begünstigende und öffentlich einsehbare Plattform für derartige Umdeutungen von Sinnzusammenhängen und Konnotationen ist heute das Internet. Dieses globale Netzwerk macht es nicht nur möglich in höherer Geschwindigkeit zu kommunizieren, sondern auch immer wieder kulturelle Grenzen hinter sich zu lassen. Musiker und Designer, Architekten und Schriftsteller, Musik- und Modefans – viele zitieren heute und gehen dabei sehr selektiv vor. In Anlehnung an menschliches Schaffen, tradierte Mythen, Bauwerke, Lieder und Geschichten, werden Dinge im Jetzt erschaffen, welche selbst in detailgetreuer Rekonstruktion nie wieder an ein vermeintliches Original oder ein historisch verzerrtes Bild von Zeitgeist heranreichen.

Einschreibung im urbanen Raum

Sieht man sich die Website des aus- gewählten Beispiels an, stößt man auf eine ganze Reihe symbolischer Einschreibungen in Berlin. Diese modernen Palimpseste gehen auf eine antike Kulturtechnik der Wiederbeschreibung zurück. Vormals auf ausgewaschenen oder abgekratzten Manuskriptseiten ausgeübt, hat diese reproduktive Technik im Laufe der kontinuierlichen Anwendung selbst eine De- und Neukontextualisierung erfahren und sich in den öffentlichen Raum verschoben. Autoren treten bei diesen modernen Beispielen in den Hintergrund, vielfach wird einfach zitiert. Auch sind die Einschreibungen vielerorts nicht lange erhalten, da sie entweder entfernt oder aber von den Nächsten verdeckt werden.

Dann ist da der selbst- und kontextreferentielle Inhalt des Satzes: ein Palimpsest im öffentlichen Raum, in dem es potentiell jederzeit „radiert” werden kann, reflektiert seine eigene „gezeichnete” Machart. Inhaltlich eine Unumkehrbarkeit postulierend, ist die Einschreibung in ihrer Form, ihrer kontextuellen Gestalt und als Produkt eines Lebens doch so auflösbar und dabei in einer Differenz wieder rekonstruierbar in einem neuen raumzeitlichen Kontext. In Kombination mit noch einem anderen Sachverhalt führt die Beobachtung dieses urbanen Intertextes zu einer interessanten Vermutung.

Im wissenschaftlichen Kontext der Medizin bezeichnet der Terminus Palimpsest das Phänomen des Filmrisses, also der Erinnerungslücke nach alkoholischem Rauschzustand. In beiden Verwendungskontexten konstituiert sich demnach ein festes Moment in der Bedeutung dieses Wortes: das Löschen. Es ist diese Beschreibung einer Amnesie, die in der angeführten Darlegung zu der Frage führt, wie es um das Vergessen beim kulturellen Gedächtnis steht. Wenn kulturelle Gedächtnisse durch gemeinsame Einschreibungen und damit auch Palimpseste konstruiert bzw. erhalten oder modifiziert werden, diese Einschreibungen selbst – zumindest in ihrer kontextgebundenen Form – aber vergänglich sind, besteht dann die Möglichkeit der kulturellen Amnesie?

Ein Exkurs in die Kulturwissenschaften

Folgt man den Ausführungen KARL H.HÖRNINGS und JULIA REUTERS, ist Kultur als ein dynamischer Prozess zu begreifen. Der praxis-theoretische Ansatz der Cultural Studies lässt das noch von GEERTZ postulierte, symbolisch-abstrakte selbstgesponnene Bedeutungsnetz hinter sich und untersucht den Begriff jenseits normativer Dispositionen in seiner pragmatischen Dimension. Die „Doing Culture” manifestiert sich abseits einer theoretischen Kompetenz in einer alltäglichen Performanz, aufrecht erhalten von einem Kultur schaffenden Menschen. Führt man sich hier vor Augen, dass das „Kulturwesen” Mensch nicht nur kulturelle Nachlässe verwaltet und modifiziert, sondern auch immer noch neue generiert, dann stellt sich einem die Frage nach der Verfassung des kulturellen Gedächtnisses. Trotz inkorporierter und externer technischer Speichermedien und gerade im Angesicht einer überaus schnelllebigen, globalisierten Populärkultur, stößt der Mensch an die Grenzen der Memoration.

Allerdings: im Gegensatz zur konkreten Form einer einzelnen kulturellen Einschreibung und Konstruktion, die im Grunde immer von Individuen abhängig ist, lebt die Kultur über beide weit hinaus. Sie mag sich in einer Vielzahl solcher Einzelakte begründen, ist aber als kollektives Orientierungsprogramm schließlich über sie erhaben. Nichtsdestotrotz lässt sich bereits jetzt beobachten, wie der Zugriff auf Traditionen und die gemeinschaftliche Ko-Memoration in Kulturräumen gerade in säkularisierten Gesellschaften wie der unseren immer selektiver werden. Soziale Dispositionen erfahren mit dem Prozess der Individualisierung und der Erschaffung eines zunächst klassenlosen Raumes namens Internet eine viel größere Dynamik. Galt früher als Maxime eine schöngeistige Hochkultur, ein ererbtes Repertoire ehemals führender Gesellschaftsschichten, dessen sich dann die Bildungsbürger-Schicht annahm und welches noch Horkheimer und Adorno gegen die „verdummende Kulturindustrie” ermahnend abzugrenzen suchten, dominiert heute die massenmediale Transformations-Maschine Pop.

Subversiv und hungrig, dekontextualisierend und reproduzierend, bedient sich die Popkultur wo sie nur kann. Angeheizt von der Werbe-, der Musik-, der Literatur-, der Kunst-, der Film- und der Modeindustrie und beschleunigt im delokalisierten Ort des Internet, vermengen sich in ihr die Narrative, Texte und Traditionen aus unterschiedlichen Kulturgebilden. Dabei werden nicht nur Bestandteile weltweiter Leit- und Subkulturen transformiert, sondern auch Errungenschaften der Popkultur selbst. Es wird geremixt.

Kultur als Selbstbedienungsladen

Wo der eine nun eine erfolgsversprechende Marktlücke wittert, bringen andere Kritik an. So kommt auch JONAS WOLF in seiner Bachelorarbeit „Die Kunst der Kontemplation – Wider unser Kommunikation” von 2011 in einem Kapitel auf den Remix zu sprechen. Aufbauend auf der eingehenden Analyse einer überkommunizierenden Gesellschaft und der FLUSSERSCHEN Unterscheidung zweier Grundpfeiler der Kommunikation Dialog und Diskurs, attestiert er unserer Leistungsgesellschaft eine diskursive Tendenz, die nach der Gliederung MICHEL MANFÉS einen Informationsmangel auf breiter Ebene bedeute. Dialoge kämen, einem zeitlichen- und einem Leistungsdiktat geschuldet, nicht mehr zu Stande und die Kommunikation offenbare ihre problematische Komplexität. JEAN BAUDRILLARD zitierend folgt er so „Die Zeit der Re-Produktion […] ist die Zeit des Codes, der Streuung und der totalen Austauschbarkeit der Elemente” (Baudrillard, 1978, S. 21 in Wolf, 2011, S. 33 f.). Lässt dieses Zitat nicht schon genug Rückschlüsse auf die Beschaffenheit unseres kulturellen Repertoires und unseren diesbezüglichen Umgang damit zu, lässt sich noch eine weitere Bemerkung rezitieren, diesmal von WILLIAM GIBSON, der polemisch bemerkt „Today’s audience isn’t listening at all – it’s participating. Indeed, audience is an antique a term as record, the one archaically passive, the other archaically physical. The record, not the remix, is the anormaly today” (Gibson, 2005, in Wolf, 2011, S. 34). Es ist diese reproduzierende Partizipation beziehungsweise eingekaufte Reproduktion der breiten Masse, die die von uns gelebte Popkultur so sehr auszeichnet – die einer symbolischen Kompetenz entbundene Performativität. Dabei ist der Remix keinesfalls ein rein musikalisches Phänomen. Er ist viel mehr das Transformations-Instrument, die Möglichkeit und das Diktat der Bricolage. Der spätmoderne, kulturschaffende und in einer Differenz immer reproduzierende Mensch ist ein Bastler und die „Doing Culture” ein Selbstläufer.

Amnesie und Umschreibung

Es bleiben nun zwei offene Fragen noch zu beantworten: Ist erstens ein kollektives Orientierungsprogramm revidierbar und besteht zweitens die Möglichkeit der kulturellen Amnesie? Ich denke ja und behaupte weiterhin, dass diese Prozesse sich gegenseitig bedingen. Natürlich können kulturell tradierte Verhaltensmuster, Kulturtechniken und über Generationen hinweg kommuniziertes Wissen nicht einfach wegradiert werden, aber sie können zerstaltet werden. In einer hochgradig dynamischen Progression, getrieben von milliardenschweren Kulturindustrien und einem von ihr inspirierten individualistischem Heer, werden die zahlreichen Facetten und Ausprägungen von Kulturen in kommunikativer Aneignung zu Collagen mit neuer Bedeutungsaufladung. Es wird nun in sofern nicht vergessen, als dass einfach überschrieben wird oder, um es in Anlehnung an die medizinische Definition des Palimpsestes auszudrücken: der hochkommunikative, translokale Vollrausch, verschleiert uns das kulturelle Gedächtnis.

GUENTHER LAUSE ist ein Kind seiner Zeit. In die Welt geworfen, versucht er sich an Orientierung und haust gedanklich in seiner großstädtischen Sternwarte. Spiegel einer Persönlichkeit und programmiertes Kultursubjekt, ermüdet er sich und andere zunehmend – über Betrachtungen bedeutungsvoller Schrotthaufen. GUENTHER LAUSE lebt.

Quellenverweise:

http://www.notesofberlin.com/search?updated-max=2012-01-18T09:00:00%2B01:00&max-results=5

Baudrillard, Jean: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin, 1978

Gibson, William: Wired Magazine, July 2005

Hörning, Karl H. & Reuter, Julia: Doing Culture – Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld, 2004

Wolf, Jonas: Die Kunst der Kommunikation – Wider unser Kommunikation, Hamburg, 2011

 

Empfehlung

Boybands sind tot, es lebe die Boyband!

BACKSTREET BOYS und NEW KIDS ON THE BLOCK sind wieder da. Im Doppelpack ziehen sie gerade durch nicht ganz ausverkaufte Hallen. Um der alten Zeiten und der Altersvorsorge willen. Die Tonlage der entzückten Schreie vor der Bühne ist um ein Oktave gefallen, es blitzen nun Lesebrillen statt Zahnspangen im gleißenden Gegenlicht, vielleicht spielen sie bald mit den Flippers und Status Quo in Heuschobern. Der Musikdozent UDO DAHMEN erklärt in der TAZ, dass Boybands mit dem ersten Freund der Teeniemädchen durch anspruchsvollere Musik abgelöst werden. Besonders wenn der Freund Hip Hop hört. Das mag in den Zeiten von Eurodance gegolten haben, die derzeit erfolgreichste Boyband der Welt jedoch kommt aus Südkorea und hat mit Hiphop angefangen.

Sie heißt BIG BANG. Der Sound mäandert zwischen Mainstream amerikanischer Prägung und triefenden Schnulzen, vorgetragen von verwegen bemützten Kids. Aber irgendetwas ist anders. Auf das Narrativ des sozialen Aufstiegs oder im Sandkasten geschlossener Männerfreundschaften verzichten BIG BANG, ihr Leitmotiv heißt Entertainment. Die koreanischen Boys erfuhren einen Drill wie sonst nur die Leichtathleten im sozialistischen Norden. Der Betreiber des Labels YG las die Jungs von der Straße auf, und das heißt in Südkorea natürlich etwas anderes als in East Harlem: Der Vorstadtidylle entrissen, um von nun an für den Ernstfall am offenen Herzen asiatischer Mädchen zu trainieren. Nur einer von ihnen, DAESUNG, ist gecastet. Er ist nicht hübsch, sondern talentiert. Man kann den sechs Jungs, natürlich ein Spektrum an Typen abdeckend, gleichwohl sorgsam bartlos, dabei zusehen, wie sie in den letzten acht Jahren von unbeholfenen Usherepigonen zu Helden der Unterhaltung heranreiften. Harte Arbeit vor der Spiegelwand, das Spiel mit der Kamera in tausendfacher Wiederholung. Wie Sportler sehen sich die Koreaner ihre Fehler auf dem Bildschirm an, einen Stab von Choreographen und Gesangslehrern an der Seite. Das konfrontativ vorgeschobene Kinn hier, die beiläufige Handbewegung dort, alles muss sitzen. Nach der Tanzschule Japanischunterricht, der gesamte Pazifikraum wird bedient, die Songs jeweils neu eingesungen.

Bei all dieser Zurschaustellung asiatischer Akribie kommt der Zuschauer nicht umhin, die Parallele zu Produktfälschungen zu ziehen. Allein, in diesem Fall ist das Ergebnis besser als das Original. TAEYANG etwa, der Posterboy der Gruppe, ist längst so gut wie seine amerikanischen Vorbilder. Das Pingpongspiel der Kulturen befindet sich bereits in vollem Gange, die überspitzte Imitation kommt in Nordamerika und Europa bestens an. Koreanischer Pop wird hier gleichsam von hello-kitty-affinen Mädchen und jungen Hipster-männern aufgegriffen – wenn die reziproke Stilvermengung wie im Falle von BIG BANG gelingt. Auch in der Wahl ihrer Producer können sich BIG BANG gegen die aalglatte Konkurrenz, etwa die chinesisch-koreanische Band EXO, abgrenzen. Während dort die wunderbar losen Grenzen des Geschmacks der asiatischen Turbojugend geradezu unterfordert werden, schickt der brillante Producer DIPLO seine Beats ganz selbstlos zu den Jungs von BIG BANG. Die seien nämlich „richtig gute Rapper“. Das Resultat der Zusammenarbeit wird ein Riesenhit. Obwohl, oder gerade weil der Text geht: „They say bubble, bubble, double, double – combo“.

Was klanglich immer manieriert bleibt, wird in teuren Musikvideos zum spektakulären Ritt durch den Zitatedschungel. Im Video für den Song „Fantastic Baby” räkeln sich wahnwitzige Frisuren zu niedrigbittigen Versatzstücken früher Unterhaltungselektronik und dem anglo-koreanischen Kauderwelsch ihrer Träger. Einer der Boys sieht aus wie der Sänger von HUMAN LEAGUE, mit dem nächsten Wimpernschlag erscheinen plötzlich die Masken von DAFT PUNK. Oder halt, nur so ähnlich. Mehr wie der Visor eines japanischen Rollenspielcharakters. Und DAFT PUNK verehren japanische Animations- filme. Das Prinzip Boyband wird pädagogisch wertvoll von biederen Deutungsmustern befreit und um Superheldentum und Kostümspiel erweitert. Nach dieser fernöstlichen Nadeltherapie auf dreieinhalb Minuten tränen die Augen, das Quecksilber läuft fröhlich über die Tastatur. „Fantastic Baby” schaffte es auf dem Hipsterportal STEREOGUM sogar zum Video der Woche.

Als Projektionsfläche eignen sich die sechs Zweckfreunde indes kaum. Sie sind Gefangene einer irgendwie bigotten Wertegesellschaft. Als der Frontmann GDRAGON in einem Tokioter Club mit Marihuana gesichtet wurde, kam gleich am nächsten Tag die gespielte Empörung in Form einer Pressemitteilung des Labels. Freilich habe der Sänger noch nie Marihuana konsumiert und den feilgebotenen Joint eines Fans für eine harmlose Zigarette gehalten. Rauchen ist in Asien schließlich voll okay. Das gleiche wiederholte GDRAGON, flankiert von seinen mit falschen Tattoos bemalten Bandkollegen, dann in einer Talkshow. Er und die anderen sind schließlich Botschafter des Konsums. Manch ein Song wird schon mal eigens für die Kampagnen der koreanischen Mobil- funkunternehmen geschrieben.

Das erklärt vielleicht, warum YG ENTERTAINMENT mit gerade mal zehn Einzelkünstlern und Teeniebands einen Umsatz von über 50 Millionen Dollar einfährt und kurz vor dem Börsengang steht. An diesem Phänomen, Badboytum als choreographierte Verschwörung, perlen die Argumente der Sozialforschung ab, die Durchdringung des fremden Kulturkreises obliegt eben der koreanischen Forschung. Ihr mangelt es gottlob an Selbstre- flexion. Im Land neben dem Land der aufgehenden Sonne sind sie heilsam geblendet von einer popkulturellen, äh, Kernschmelze.

PAUL SOLBACH betreibt das Berliner Start-up DU.SAGST.ES