Termine

Don’t Panic Berlin empfiehlt:

5 Termine in Berlin, die ihr auf keinen Fall verpassen solltet

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Bite Club

Hoppetosse, 27/09/13, 18Uhr

Unsere Freunde vom Bite Club Team haben hart an ihrem brandneuen „Street Food Market“ gearbeitet. Nun ist er fertig und präsentiert euch beste Feinkost zu bezahlbaren Preisen an der Spree. Alle Stände und Wagen wurden mit Bedacht ausgewählt. Dazu gibt es bis spät in die Nacht Musik. Der Markt hat Potenzial, einmal ganz groß zu werden. Schaut deshalb vorbei, solange er noch frisch ist! Am 27. September ist es wieder soweit.

Dean Blunt

Berghain Kantine, 22/11/13, 21Uhr

Nach der Ankündigung, dass die Londoner Künstler Inga Copeland und Dean Blunt getrennte Wege gehen, sind wir gespannt darauf, wie es mit ihrem gemeinsamen visionären Projekt Hype Williams weitergehen wird. In der Zwischenzeit könnt ihr euch die eine Hälfte des Projektes in der Berghain Kantine ansehen. Dort stellt Dean Blunt am 22. November sein viel gefeiertes Album The Redeemer vor.

Everything Is True: Objekt & Call Super All Night Long

Chesters, TBA

Das DJ-Team Objekt & Call Super hat in der letzten Zeit viel Zuspruch erhalten. Umso interessanter erscheint die Party-Reihe „Everything Is True“, die unsere Freunde in dem intimen Club Chesters gestartet haben. Als wären die beiden für sich nicht allein schon  genug, legen neben ihnen jedes Mal einige weitere aufregende Künstler auf.

Polymorphism #9

Berghain, 04/10/13, 20Uhr

Ob ihr von den Headlinern gehört habt oder nicht, spielt keine Rolle. Ihr könnt euch darauf verlassen, dass die Leute von der CTM großartige Acts auf die Bühne holen. Entsprechend bedenkenlos könnt ihr bei ihren Events vorbeischauen – vorausgesetzt natürlich, dass ihr auf experimentelle Musik steht! Über ihr jährliches CTM-Festival hinaus organisieren sie regelmäßig die Polymorphism-Nächte im Berghain, wo es die volle Bandbreite an experimentellen Soundkünstlern, Musikern und Produzenten zu sehen gibt. Am 10. Oktober folgt die nächste Ausgabe, zu der unter anderem geladen sind: Lorenzo Senni, Oneohtrix Point Never und Stellar Om Source.

J.A.W x Steve Reid Foundation w/ Free Spirits

Prince Charles, 13/10/13, 15Uhr

Die J.A.W Family kombiniert auf ihren Parties Improvisations-Musik mit DJ-Sets. Ganz in diesem Zeichen steht auch ihr Event im Prince Charles, wo neben vielen tollen Bands Gilles Peterson, Floating Points und Fourtet hinter den Plattentellern stehen werden. Mit der Party soll Geld für die Steve Reid Foundation gesammelt werden, die dem schwer erkrankten Saxophonisten und Komponisten Arthur Blythe helfen möchte. Ein weiterer Teil der Erlöse geht an die Betreiber des Festsaal Kreuzberg. Der Veranstaltungsraum ist in diesem Sommer komplett ausgebrannt. Go support the causes!

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Indi Davies is a writer, illustrator and co-founder of the blog Don’t Panic Berlin.

(Foto: Lucy Sparks)

Sounds

Mouca ist ein DIY-Musik-, Poesie-, und Video-Label, das in Porto und Berlin beheimatet ist. Seit Sommer 2012 haben Augusto Lima und Charlotte Thießen fleißig Kassetten überspielt, auf denen neben neuen, aufregenden Bands auch  eine Vielzahl befreundeter, nicht minder spannender Künstler_innen zu finden sind. Denn darum geht es bei Mouca: Musik zu unterstützen, die den beiden Musikliebhaber_innen am Herzen liegt. Für die Zukunft haben Augusto und Charlotte sich vorgenommen, die Bande zwischen Berlin und Porto noch weiter zu stärken. Auf dem zweiten Cartouche-Tape haben sie ein weiteres Mal Menschen und Musik aus verschiedenen Kontexten zusammengebracht.

Tracklist

 1. The Courtneys – 90210

2. The Anna Thompsons – Fuck You

3. The Yawns – Summers Wasted

4. Free Time – Just One

5. Delta Love – I Swear

6. Ageing Children – I’m Gonna Get My Dog

7. Islet – Triangulation Station

8. Manors – No One Told You

9. Skiing – Hiddensee

10. Lullatone – Splitting a Banana Split

11. Las Kellies – Golden Love

12. Advance Base – Love Goes Home To Paris In The Spring (The Magnetic Fields cover)

Links: Bandcamp / Mouca-Homepage / Mouca-Facebook

Editorial

Neulich im Nathanja und Heinrich mit den Freund_innen gesessen. Draußen war Sommer, drinnen tranken wir Pastice. Alles hier fühlte sich gut und richtig an.

Es ist eben jenes Gefühl, jene Zelebration des Moments, um die es in Cartouche No. 4 geht. Wir wollen ihn einfangen, den Sound dieser Tage. Und so finden sich auch in diesem Heft wieder Projekte von Menschen, die uns begeistern, indem sie das, was uns umgibt, in ihrer Arbeit reflektieren und somit einen Beitrag zum Hier und Jetzt leisten.

Das erste Gespräch dieser Ausgabe führten wir mit dem Berliner Duo Easter. Die Musik von Stine Omar Midtsæter und Max Boss lässt sich nur schwer in Worte fassen, entfaltet zugleich aber eine einzigartige Atmosphäre. Wir haben die beiden im Wedding getroffen. Die Protagonisten von Gespräch zwei und drei sind Alexander Winkelmann und Yule FM. Beiden ist es auf eigene Weise gelungen, eine aufregende Kunstsprache zu entwerfen. Das großartige Interview mit Alexander Winkelmann führte unser neuer Autor Max Link.

Über die Musik hinaus finden sich in Cartouche No. 4 aufregende Talente aus den Bereichen Fotografie und Design. Da wäre Tonje Thilesen, die eindrucksvolle Fotos von Menschen und Orten macht. Und die Designerin Lina-Marie Koeppen. In der Designstudie „Learn To Unlearn“ geht sie der Frage nach, ob Design den Menschen dabei helfen kann, sich ihrer selbst zu bemächtigen. Ebenfalls begrüßen wollen wir Pen-Club-Mitglied Malte Euler und die Designerin Regina Weber.

Unsere Gastautoren haben weitere wichtige Gegenwarts-Projekte unter die Lupe genommen. Henning Lahmann empfiehlt das erste Album des Avantgarde-Kollektivs Young Echo, Warren O’Neill und Kyle Brayton haben sich mit dem schwedischen Teenage-Rapper Yung Lean befasst, Evelyn Malinowski war auf den Spuren der Grimes-Gang unterwegs, Jamie Jonathan Ball hat in London den Designer Matthew Bromley getroffen und Paul Solbach geht dem Mythos Pop auf den Grund.

Neu in diesem Heft ist der Don’t Panic Berlin Ausgehplan mit fünf Terminen, die ihr auf keinen Fall verpassen solltet. Vielen Dank an dieser Stelle an Indi Davies! Großer Dank gilt ebenfalls Charlotte Thießen und Augusto Lima vom Kassetten-Label Mouca, die für uns ein weiteres mal ein Mixtape mit ihrer Lieblingsmusik zusammengestellt haben.

Und nun: Umarmt mit uns das Jetzt!

Tanzen

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CARTOUCHE RELEASE PARTY / 21. SEPTEMBER 2013 / NAHERHOLUNG STERNCHEN / BEROLINASTRASSE 7 / 20:30UHR / EASTER (LIVE) / LOOD MAHAMOTI (LIVE) / ALEXANDER WINKELMANN (LIVE) / AA..LL (LIVE) / WARREN O (DJ) / ONLINE BANKING (DJ) / DON’T PANIC BERLIN (DJ) / SHAMELESS/LIMITLESS (DJ) / NO FEAR OF POP (DJ) / SPEX (DJ) / EINTRITT: 6-8 EURO

Links: Facebook-Event / Easter / Lood MahamotiAlexander Winkelmann / AA..LL / Warren O / Don’t Panic Berlin / Shameless/LimitlessNo Fear of Pop / Spex

(Flyer: MARIUS WENKER)

Portrait

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REGINA WEBER – Eine Modedesignerin mit Fernweh

Eine Küche irgendwo in Neukölln. REGINA WEBER sitzt mit ein paar Freund_innen am Tisch und erklärt den Unterschied zwischen den verschiedenen japanischen Schriftzeichen-Systemen. „Davon gibt es drei, sie kommen jeweils in anderen Bereichen zur Anwendung“, sagt sie lächelnd durch die schwarz umrandete Brille, die sie seit neuestem trägt. Die braunen Haare hat sie wie immer zum Zopf gebunden, am Rand ihres unteren Augenlides hat sie sich mit schwarzem Kajal einen Punkt gesetzt. Sprechen kann sie die Sprache auch schon ganz gut: „千里の道も一歩から。“. Der deutsche Akzent ist fast gar nicht rauszuhören. Warum sich die aufstrebende Mode-Designerin so gut mit dem Japanischen auskennt? Ganz einfach: Ab September wird sie dort ein Jahr studieren.

Es ist genau dieser Durst nach Neuem, diese Reiselust, die REGINA WEBER auszeichnet. Wann immer sie kann, packt sie ihre Koffer, um die Welt zu entdecken. So bereiste sie bereits den Nahen Osten, Zentralasien bis Fernost: China, Neuseeland, Oman, Tibet, Georgien, Nepal, Usbekistan und Sri Lanka. Direkt nach dem Abitur verbringt die Designerin aus Bayern jedoch erst einmal ein Jahr in Shanghai, bevor sie sich in Berlin niederlässt, um hier Chinesisch zu studieren. Nach zwei Semestern wirft sie jedoch hin. Der Grund: Sie will etwas anderes machen, genauer, zu ihrem eigentlichen Plan zurückkehren. „Im Herzen trug ich immer noch den Wunsch etwas mit Mode zu machen“, erzählt sie wenig später am Abend im Zwielicht einer Kerze. REGINA ist schon seit ihrer Jugend klar, dass Mode ihr Metier ist. Es ist der Schaffensprozess, der sie begeistert – ein selbstgemachtes Produkt in den Händen zu halten, etwas zu schaffen, an dem jemand Freude hat. Anfangs zögert sie noch diesen Weg einzuschlagen, doch als sie eines Tages eine Jacke des bulgarischen Designers VLADIMIR KARALEEV im Concept-Store APARTMENT erspäht, ändert sich das schlagartig: „Ich war hin und weg von der abgefahrenen Jacke“, berichtet sie. Vor allem fasziniert sie die Ästhethik des Designers, der seine Kleider nicht anhand einer Skizze fertigt, sondern sie im Orginalstoff an der Puppe drapiert.

Doch nicht nur die Leidenschaft für Mode wird durch das Kleidungsstück neu entfacht. Zugleich fasst sie an diesem Nachmittag den Entschluss für VLADIMIR zu arbeiten. Nach unzähligen Anrufen und Emails, fängt sie schließlich im Herbst 2010 als Assistentin bei dem Designer an. Sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für den Job aussuchen können: Es ist die Zeit vor VLADIMIRS großem Durchbruch. Heute zählt er zu den angesagtesten Berliner Designern. Von Beginn an wurde ihr viel Verantwortung übertragen: Innerhalb von drei Wochen stellt Regina zusammen mit dem Designer eine Modenschau bei der MERCEDES BENZ FASHION WEEK auf die Beine. Und das ohne jegliche Erfahrung. „Aber so arbeitet VLADIMIR nun mal“, sagt REGINA. Sie ist mittendrin, näht die Nächte durch, lernt Tag für Tag die Wichtigsten des Modezirkus kennen und hat so viel Adrenalin wie noch nie im Blut. Das ist genau das, was sie machen will. „Ich konnte das alles gar nicht fassen“, sagt sie mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck.

VLADIMIR ist jedoch erst der Anfang. Außerhalb des Ateliers arbeitet REGINA an ihrer Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule Weißensee, an der sie nun seit drei Semestern Modedesign studiert. Ihr Talent spricht sich rasch herum, SISSI GOETZE heuert sie als Assistentin an. Von körperumhüllender Frauenmode eines VLADIMIR KARALEEV wagt REGINA den Schritt zu formvollendeter, perfekt geschnittenen Männerdesigns, die ihr einen anderen Blick auf die Mode ermöglichen. SISSI ist jedoch weit mehr als nur ihre Chefin. Sie ist eine wichtige Mentorin, als REGINA sich an ihre eigene Kollektion wagt. Die Fragen „Wie sieht meine eigene Mode aus?“ und „In welche Richtung soll es mit meinen eigenen Designs gehen?“ stehen schon länger im Raum und als VLADIMIR, selbst in den Ferien in Italien, REGINA das Studio für drei Wochen zum Arbeiten überlässt, scheint der Zeitpunkt genau richtig. Es ist Hochsommer und das Studio in der Leipziger Straße, aufgeheizt wie eine Sauna, ist nur bei Nacht erträglich zum Arbeiten.

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Die ersten Entwürfe enstehen, doch Regina wird ihren Ansprüchen noch nicht gerecht. Zu ähnlich sind die Designs denen VLADIMIRS. Nach und nach gelingt es ihr jedoch, ihre eigene Note herauszuarbeiten und in zweieinhalb Wochen entstehen fünf Oufits, die ihre persönliche Handschrift tragen. Im Zentrum stehen Strukturen. Ungewohnte Materialien inspirieren sie und so werden Putzlappen, Fahrradschläuche und ein einem Duschvorhang ähnlicher Stoff in die Entwürfe integriert und verfremdet. Von Weitem nimmt der Fahrradschlauch die Charaktereigenschaften von Leder an, erst auf den zweiten Blick erkennt man das eigentliche Material. Ein Kleid sticht aus der Kollektion besonders heraus. Eine selbstgefertigte Wachsstruktur wird auf weißen Stoff appliziert und mit einer transparenten Hülle verschleiert. Es ist ein Kleid, so einzigartig schön, dass es einem die Sprache verschlägt. „Den eigenen Stil zu finden ist eine große Herausforderung“, sagt REGINA ernst. Doch wie immer meistert sie diese Aufgabe bravourös.

Neben all diesen einmalig tollen Erfahrungen hat REGINA auch die Schattenseiten des Modebetriebs kennengelernt: Den Modekritikern mangelt es oftmals an Respekt. Zwar dauert eine Show meist nicht länger als 15 Minuten, doch steckt sehr viel Arbeit dahinter, einige 80-Stunden-Wochen inklusive. „Mode ist kein Spaßding und kann schnell an die Substanz gehen“, sagt REGINA. Genau das wird häufig vergessen, wenn leichtfertig Kollektionen verrissen werden. „In Deutschland gibt es nicht genügend Wertschätzung für Mode“, erklärt sie während sie Wein in ihr Glas schenkt. Ihre Nägel glitzern vom goldenen Lack. Dies ist auch einer der Gründe, warum junge Modedesigner von einem unbezahlten Praktikum ins nächste fliehen, es fehlt die Anerkennung. REGINA weiß wovon sie spricht, sie hat das alles am eigenen Leib erfahren.

Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen und will auf jeden Fall weitermachen. All die Erfahrungen, ob gut oder schlecht, haben sie geprägt. Wohin die Reise gehen wird, steht noch offen. „Alles ist möglich“, sagt die Designerin. Wahrscheinlich wäre zu viel Gewissheit auch langweilig für einen Menschen wie REGINA. Eins steht aber sicher fest: Die Mode wird es sein. Erstmal heißt die nächste Station jedoch: Japan!

MARIE-THERESE HAUSTEIN bekommt bei „Whiskey Sour“ von MOLLY NILSSON Gänsehaut und überquert ab Ende Februar jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit die Seine.

(Foto: FALKO SAALFELD)

No Fear Of Pop empfiehlt:

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OLD APPARATUS – Derren EP / Realise EP / Alfur EP / Harem EP

Es ist nicht ganz klar, wann die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Aber ach, was sind wir es leid. Wahrscheinlich fing es nicht an mit BURIAL; war es BANKSY? Egal. Was die Musik betrifft, so erscheint es am einfachsten, die Ursache wie üblich ‚im Internet’ zu verorten. Gewiss ist jedenfalls: Jemand sollte all den jungen Produzenten einmal mitteilen, dass die Sache sich erledigt hat, dass alles zumeist nur noch wie ein müder Abklatsch eben jenes BURIAL wirkt: Künstlerische Anonymität.

Sie macht natürlich, ganz oberflächlich betrachtet, viele Dinge einfacher, und gelegentlich scheint sie sogar unumgänglich, und ohne Frage hat die virtuelle Welt vieles in dieser Hinsicht erst ermöglicht mit ihren ungezählten unbeleuchteten Ecken, den Foren und Newsgroups, der Pornografie und der Kriminalität, und natürlich der Aufklärung, betrachtet man sie nun als tatsächlich oder als nur vorgeblich: ANONYMOUS wäre nichts ohne das Internet; eine GUY-FAWKES-Maske allein schützt nur schwerlich vor staatlichem Zugriff. Von Letzterem abgesehen aber dient Anonymität zumeist einem gänzlich anderen Zweck: Sie stellt ein bequemes Mittel bereit zur kognitiven Verantwortungsverschiebung. Ist mein Alter Ego erst einmal etabliert, so eröffnet sich die Möglichkeit, die Persönlichkeit zu spalten; nicht ich habe es getan, sondern der/die/das Andere, das zugleich Ich und nicht Ich ist. Man frage einmal nach bei der Kriminalpsychologie.

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In der Musik jedoch funktioniert dies nur bedingt, und deshalb erstaunt es umso mehr, dass es in den vergangenen Jahren fast schon zur Normalität geworden ist, jedenfalls abseits des Mainstream, mit Werken konfrontiert zu werden, deren Urheberschaft bewusst im Unklaren gelassen wird. Man könnte versucht sein, diesen Trend positiv zu deuten, denn Anonymität könnte ja auch den Verzicht auf jegliche Eitelkeiten heißen; zumeist ist es jedoch lediglich der Versuch der Immunisierung gegen Kritik. Häufig heißt es, man bleibe lieber verborgen, damit sich der Kritiker/Hörer nicht mit der Person auseinandersetze, sondern allein mit der Musik. Aber das ist natürlich Blödsinn. Allzu leicht passiert das genaue Gegenteil; nicht die Musik wird zum Mittelpunkt des Diskurses, sondern die Suche nach der Person hinter dem Werk.

Das Konzept anonymer Urheberschaft in der Musik funktioniert dann und nur dann, wenn das geschaffene Werk tatsächlich Eigenständigkeit gewinnt; wenn es den Autor in gewisser Hinsicht transzendiert und dieser somit im Grunde bedeutungslos wird. Das gewählte Pseudonym wird zum ‚Autor’. Bei BURIAL ist genau das der Fall; es fällt wohl kaum jemandem auf Anhieb der wirkliche Name ein, so er denn überhaupt stimmt; die Kritik feiert BURIAL, nicht WILLIAM BEVAN, dessen künstlerische Sprache so erhaben ist und unverkennbar einzigartig, dass die Idee singulärer Urheberschaft, etwas doch schlicht Menschliches, hinter solch unwirklicher Musik fast zu banal erscheint. Aber ein solcher Triumph des Werkes über den Autor ist die absolute Ausnahme, nicht die Regel.

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Allerdings, manchmal gelingt es eben doch, und ein Beispiel ist das britische Künstlerkollektiv OLD APPARATUS. Gegründet 2010 und zunächst in Erscheinung getreten mit Veröffentlichungen auf MALAS Label DEEP MEDI MUSIK, hat sich das Londoner Quartett im vergangenen Jahr durch die Gründung des eigenen Labels SULLEN TONE, das ausschließlich der Veröffentlichung ihrer eigenen Platten gewidmet ist, gänzlich vom gewohnten britischen Musikzirkus entfernt. Was das Konzept künstlerischer Anonymität angeht, gehen OLD APPARATUS dabei in gewisser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter als BURIAL, und erstaunlicherweise scheitern sie dabei nicht. Nicht nur die tatsächlichen Namen der Mitglieder bleiben verborgen hinter Pseudonymen, sogar diese Künstlernamen selbst gehen auf im Kollektiv: drei der vier EPs, die 2012 auf SULLEN TONE erschienen sind – Derren, Realise, Alfur und Harem – wurden jeweils komplett von einzelnen Mitgliedern geschrieben, vertont, und produziert; nur bei der ersten, Derren, handelte es sich um eine genuine Gemeinschaftsarbeit. Trotzdem erschienen sämtliche Platten unter dem Namen OLD APPARATUS; der Beitrag des Einzelnen geht auf in der Identität des Kollektivs. Hinzu kommt eine bis ins Detail ausgearbeitete, kohärente Gesamtästhetik, die auch zum Ausdruck kommt in den Videos, der Gestaltung der Plattencover, der Website, bei der Visualisierung der Live-Auftritte: Alles wird ohne Unterscheidung der Entität OLD APPARATUS als Urheber zugewiesen.

Musikalisch war das Quartett aufgrund der frühen Verbindung zu MALA allzu schnell im Dunstkreis von Dubstep abgeheftet worden, was schon bei den frühen Releases höchstens oberflächlich überzeugen konnte. Spätestens seit dem Wechsel zum eigenen Label und der Verfestigung der künstlerischen Vision ist eine solche Klassifizierung jedoch Makulatur. Die Stücke von OLD APPARATUS nehmen alles auf, von Post-Rock über Hip-Hop und R&B zu Noise und Industrial, mit zahllosen Referenzen, die auf eine intensive Beschäftigung mit dem gesamten Kanon vorwärtsgewandter britischer Musik der vergangenen 25 Jahre schließen lässt; mit einem besonderen Augenmerk auf Trip-Hop, den Katalog einflussreicher Labels wie WARP oder NINJA TUNE, und, ja, selbstverständlich auch frühem Dubstep. Es ist, auf den Punkt gebracht, Musik, die so nur im Vereinigten Königreich, ja wahrscheinlich sogar nur in London überhaupt denkbar erscheint.

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Die vier EPs unterscheiden sich dabei durchaus beträchtlich. Die einzelnen Producer kommen aus teilweise fast schon gegensätzlichen musikalischen Richtungen, und diese Prägungen finden direkten Niederschlag im Sound. Während das gemeinsam geschaffene Werk Derren noch am ehesten im Post-Dubstep zu verorten ist, insbesondere das dritte Stück, „Dealow“, schielen die Texturen der zweiten EP Realise eher in Richtung einer gebrochenen, desillusionierten Vision des Dancefloor: Man kann hierzu wahrscheinlich tanzen, wenn man bereit ist, alle Hoffnung fahren zu lassen. In der klaustrophobischen, dystopischen Suite des finalen Titeltracks findet die Tetralogie ihren ersten Höhepunkt. Alfur vereint den WARP-Katalog mit zahlreichen Referenzen zum Post-Rock, und weist mit dem Fabeltrack „Schwee“ die wahrscheinlich einzige perfekte ‚Single‘ des Kollektivs auf. Mit Harem schließlich findet die Reise ein geradezu sublimes Ende mit der für sich genommen wohl stärksten EP; die Strukturen verflüchtigen sich in ungeordnetem, psychedelisch angehauchtem Ambient, dequantisierte Rhythmen und bedrückende, ausgreifend angelegte Flächen lassen Harem tatsächlich wirken wie das Ende eines drogeninduzierten Trips, dessen Anfang nur noch verschwommen Teil der eigenen Erinnerung zu sein scheint. Das letzte Stück „Octafish“ endet in stiller, kontemplativer Resignation; ein Abschluss, der keine Auflösung bereithält. Jedoch, trotz dieser durchaus beträchtlichen Unterschiede in der Herangehensweise und im Sound, die auf jeder EP deutlich zum Ausdruck kommen, bleibt jeder Track stets unverkennbar ein Werk von OLD APPARATUS, nicht eines einzelnen Mitglieds.

Es ist das so konsequent, so bewusst durchgehaltene Gesamtkonzept, das die Stücke zusammenhält. OLD APPARATUS verkörpern mit ihrer Musik eine selbstverständliche Urbanität; in ihrem Werk kommt, und hier ähnelt ihr Ansatz durchaus dem BURIALs, der Charakter der spätmodernen Stadt zum Ausdruck, wodurch ihre Namenlosigkeit gerade erst sinnhaft wird: der Eklektizismus, die gewollten Brüche und die Mannigfaltigkeit der stilistischen Einflüsse eröffnen einen eigenen großstädtischen Kosmos, die Musik wird zum adäquaten Abbild der Metropole im 21. Jahrhundert. Das Dunkle, Bedrohliche der Musik, die bedrückte und bedrückende Stimmung, die sich durch praktisch alle Stücke als das eine prägende Leitmotiv zieht, verweist dabei auf die Isolation des Individuums, auf seine Entfremdung, wenn man es so betrachten mag; es ist dieser Kontext, der die anonyme Urheberschaft nicht nur konsequent, sondern geradezu unausweichlich erscheinen lässt; und nicht nur deshalb gehörten die vier EPs von OLD APPARATUS zu den faszinierendsten musikalischen Veröffentlichungen des Jahres 2012.

Links: Homepage

HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter NO FEAR OF POP und schreibt auch sonst hier und da über Musik

(Foto & Artwork: SULLEN TONE)