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Der selbsterklärte Vinyljunkie MADTEO fing vergleichsweise spät an mit dem Produzieren. 27 Jahre war er alt, als er auf einem aus zweiter Hand erstandenen Sampler seine ersten Tracks zusammenbaute. Inzwischen ist der italienische Musiker aus Padua, der mit bürgerlichem Namen MATTEO RUZZON heißt, einer der gefeiertsten Produzenten der Underground-Dancemusic-Szene. Das liegt zum einen an seiner Philosophie: MADTEO versteht sich als Fan und nicht als Künstler. Aber auch sein einzigartiger Sound hat zu seinem Ruhm beigetragen. Die Musik MADTEOS bewegt sich zwischen druckvollem Instrumental-Hip-Hop und relaxtem House.

Sein Debüt und einige weitere EPs veröffentlichte MADTEO auf den angesagten Underground-House-Labels WORKSHOP und HINGE FINGER. Noi No, sein zweites Album, erscheint nun auf dem legendären Experimental-Label SÄHKÖ RECORDINGS, das unter anderem die erste EP des finnischen Industrial-Projekts PAN SONIC herausgebracht hat.

Auf Noi No geht MADTEO neue Wege. Ganz besonders fällt auf, dass ein Großteil der Tracks ohne Beats auskommen. Führt man sich vor Augen, dass diese für die Ästhetik des Musikers bisher maßgeblich und in all seinen anderen Tracks vertreten waren, erscheint dieser Umstand umso mutiger. Anknüpfungspunkte an seine bisherigen Arbeiten sind hingegen der rough abgemischte Sound und die Dekonstruktion fester Formen, die durch alle Tracks hindurch betrieben wird. Nun wurde gerade das Spiel mit Strukturen im House-Bereich zuletzt bis an die Grenzen ausgereizt. Im Vergleich zu vielen seiner Kolleg_innen fing MADTEO damit aber schon viel früher an. Entsprechend wirkt dieses Stilmittel bei ihm weniger aufgesetzt.

Eine weitere Überraschung sind MADTEOS Vocals. Fast erinnern sie an eine Beichte, so persönlich sind die Texte, so zart ist die Stimme, die diese Texte vorträgt. Derartig nah ist man dem Produzenten bisher zu keinem Zeitpunkt gekommen. In dieser Hinsicht hat Noi No große Ähnlichkeiten mit den Klassikern Silent Introduction von MOODYMAN und Midtown 120 Blues von DJ SPRINKLES, bei denen lange Monologe von sanft pumpenden House Beats begleitet werden. Wie MADTEO nutzen die beiden Produzenten hedonistisch anmutende Musik als Untermalung für eine intime Introspektion.

Kein Zweifel: Noi No ist ein bis zur letzten Konsequenz ambitioniertes Album, dessen Stärken in der Ablehnung gängiger Genre-Klischees liegt. Und doch hat die Platte zwei schwache Momente: Das Vocal-Sample in „Vox Your Nu Yr Resolution“ unterhält zunächst, fällt nach mehrfachem Hören jedoch auf die Nerven. Das Gleiche gilt für „Rugrats Don’t Techno for an Answer“, das aus mehreren Samples des DRAKE-Songs „Marvin’s Room“ besteht. Der Bezug auf den kanadischen Rapper kann indes als Statement zum Desinteresse junger Leute in Kanada und den USA an Techno und House und der Dominanz von R&B auf dem nordamerikanischen Musikmarkt gelesen werden.

House Music in ein Albumformat zu bringen, ist schon immer eine große Herausforderung gewesen. Und MADTEO war bisher sehr erfolgreich damit, kein House-Album aufzunehmen. Nichtsdestotrotz ist es dem Produzenten gelungen, eine Platte zu machen, welche an die Qualität seiner anderen Releases herankommt und sich somit nahtlos in sein Klanguniversum fügt. Noi No könnte MADTEO zum großen Durchbruch verhelfen und ihm die Anerkennung bescheren, die er verdient. Nicht, dass er das nötig hätte.

Links: SÄHKÖ

WARREN O’NEILL ist ein Mathematiker und DJ aus Limerick. Er ist davon überzeugt, dass bis Ende 2013 in der PANORAMA BAR nur noch Hip-Hop zu hören sein wird.

Foto: TOMMI GRÖNLUND

Artwork: SÄHKÖ RECORDINGS

 

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Boybands sind tot, es lebe die Boyband!

BACKSTREET BOYS und NEW KIDS ON THE BLOCK sind wieder da. Im Doppelpack ziehen sie gerade durch nicht ganz ausverkaufte Hallen. Um der alten Zeiten und der Altersvorsorge willen. Die Tonlage der entzückten Schreie vor der Bühne ist um ein Oktave gefallen, es blitzen nun Lesebrillen statt Zahnspangen im gleißenden Gegenlicht, vielleicht spielen sie bald mit den Flippers und Status Quo in Heuschobern. Der Musikdozent UDO DAHMEN erklärt in der TAZ, dass Boybands mit dem ersten Freund der Teeniemädchen durch anspruchsvollere Musik abgelöst werden. Besonders wenn der Freund Hip Hop hört. Das mag in den Zeiten von Eurodance gegolten haben, die derzeit erfolgreichste Boyband der Welt jedoch kommt aus Südkorea und hat mit Hiphop angefangen.

Sie heißt BIG BANG. Der Sound mäandert zwischen Mainstream amerikanischer Prägung und triefenden Schnulzen, vorgetragen von verwegen bemützten Kids. Aber irgendetwas ist anders. Auf das Narrativ des sozialen Aufstiegs oder im Sandkasten geschlossener Männerfreundschaften verzichten BIG BANG, ihr Leitmotiv heißt Entertainment. Die koreanischen Boys erfuhren einen Drill wie sonst nur die Leichtathleten im sozialistischen Norden. Der Betreiber des Labels YG las die Jungs von der Straße auf, und das heißt in Südkorea natürlich etwas anderes als in East Harlem: Der Vorstadtidylle entrissen, um von nun an für den Ernstfall am offenen Herzen asiatischer Mädchen zu trainieren. Nur einer von ihnen, DAESUNG, ist gecastet. Er ist nicht hübsch, sondern talentiert. Man kann den sechs Jungs, natürlich ein Spektrum an Typen abdeckend, gleichwohl sorgsam bartlos, dabei zusehen, wie sie in den letzten acht Jahren von unbeholfenen Usherepigonen zu Helden der Unterhaltung heranreiften. Harte Arbeit vor der Spiegelwand, das Spiel mit der Kamera in tausendfacher Wiederholung. Wie Sportler sehen sich die Koreaner ihre Fehler auf dem Bildschirm an, einen Stab von Choreographen und Gesangslehrern an der Seite. Das konfrontativ vorgeschobene Kinn hier, die beiläufige Handbewegung dort, alles muss sitzen. Nach der Tanzschule Japanischunterricht, der gesamte Pazifikraum wird bedient, die Songs jeweils neu eingesungen.

Bei all dieser Zurschaustellung asiatischer Akribie kommt der Zuschauer nicht umhin, die Parallele zu Produktfälschungen zu ziehen. Allein, in diesem Fall ist das Ergebnis besser als das Original. TAEYANG etwa, der Posterboy der Gruppe, ist längst so gut wie seine amerikanischen Vorbilder. Das Pingpongspiel der Kulturen befindet sich bereits in vollem Gange, die überspitzte Imitation kommt in Nordamerika und Europa bestens an. Koreanischer Pop wird hier gleichsam von hello-kitty-affinen Mädchen und jungen Hipster-männern aufgegriffen – wenn die reziproke Stilvermengung wie im Falle von BIG BANG gelingt. Auch in der Wahl ihrer Producer können sich BIG BANG gegen die aalglatte Konkurrenz, etwa die chinesisch-koreanische Band EXO, abgrenzen. Während dort die wunderbar losen Grenzen des Geschmacks der asiatischen Turbojugend geradezu unterfordert werden, schickt der brillante Producer DIPLO seine Beats ganz selbstlos zu den Jungs von BIG BANG. Die seien nämlich „richtig gute Rapper“. Das Resultat der Zusammenarbeit wird ein Riesenhit. Obwohl, oder gerade weil der Text geht: „They say bubble, bubble, double, double – combo“.

Was klanglich immer manieriert bleibt, wird in teuren Musikvideos zum spektakulären Ritt durch den Zitatedschungel. Im Video für den Song „Fantastic Baby” räkeln sich wahnwitzige Frisuren zu niedrigbittigen Versatzstücken früher Unterhaltungselektronik und dem anglo-koreanischen Kauderwelsch ihrer Träger. Einer der Boys sieht aus wie der Sänger von HUMAN LEAGUE, mit dem nächsten Wimpernschlag erscheinen plötzlich die Masken von DAFT PUNK. Oder halt, nur so ähnlich. Mehr wie der Visor eines japanischen Rollenspielcharakters. Und DAFT PUNK verehren japanische Animations- filme. Das Prinzip Boyband wird pädagogisch wertvoll von biederen Deutungsmustern befreit und um Superheldentum und Kostümspiel erweitert. Nach dieser fernöstlichen Nadeltherapie auf dreieinhalb Minuten tränen die Augen, das Quecksilber läuft fröhlich über die Tastatur. „Fantastic Baby” schaffte es auf dem Hipsterportal STEREOGUM sogar zum Video der Woche.

Als Projektionsfläche eignen sich die sechs Zweckfreunde indes kaum. Sie sind Gefangene einer irgendwie bigotten Wertegesellschaft. Als der Frontmann GDRAGON in einem Tokioter Club mit Marihuana gesichtet wurde, kam gleich am nächsten Tag die gespielte Empörung in Form einer Pressemitteilung des Labels. Freilich habe der Sänger noch nie Marihuana konsumiert und den feilgebotenen Joint eines Fans für eine harmlose Zigarette gehalten. Rauchen ist in Asien schließlich voll okay. Das gleiche wiederholte GDRAGON, flankiert von seinen mit falschen Tattoos bemalten Bandkollegen, dann in einer Talkshow. Er und die anderen sind schließlich Botschafter des Konsums. Manch ein Song wird schon mal eigens für die Kampagnen der koreanischen Mobil- funkunternehmen geschrieben.

Das erklärt vielleicht, warum YG ENTERTAINMENT mit gerade mal zehn Einzelkünstlern und Teeniebands einen Umsatz von über 50 Millionen Dollar einfährt und kurz vor dem Börsengang steht. An diesem Phänomen, Badboytum als choreographierte Verschwörung, perlen die Argumente der Sozialforschung ab, die Durchdringung des fremden Kulturkreises obliegt eben der koreanischen Forschung. Ihr mangelt es gottlob an Selbstre- flexion. Im Land neben dem Land der aufgehenden Sonne sind sie heilsam geblendet von einer popkulturellen, äh, Kernschmelze.

PAUL SOLBACH betreibt das Berliner Start-up DU.SAGST.ES

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„She’s like Britney at this point. I’m just a stooge”. Besser als JASPER BAYDALA, Mitarbeiter des Labels ARBUTUS RECORDS, hätte man den Hype um CLAIRE BOUCHER aka GRIMES nicht auf den Punkt bringen können. Seitdem die Kanadierin im März ihr drittes Album Visions auf dem renommierten britischen Label 4AD veröffentlicht hat, reißen sich alle um sie. An BOUCHER heranzukommen scheint momentan ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, sodass selbst gute Freunde wie BAYDALA da nicht weiterhelfen können.

Doch ist der Rummel um die Musikerin berechtigt? Um es vorweg zu nehmen: Ja, das ist er in der Tat! CLAIRE BOUCHER hat mit Visions eines der wegweisendsten Alben der vergangenen Jahre aufgenommen. Die Musikerin aus Montreal kommt aus dem Umfeld des Labels ARBUTUS RECORDS und des bereits geschlossenen Musiklofts LAB SYNTHÈSE. Auf ARBUTUS RECORDS erschienen ihre ersten Alben Geidi Primes und Halfaxa, im LAB SYNTHÈSE spielte sie ihre ersten Shows, der Gründer beider Institutionen, SEBASTIAN COWAN, ist ihr Manager. Eigentlich war sie zum Studium nach Montreal gekommen, doch als GRIMES immer mehr Resonanz bekam, schwänzte sie die Kurse, bis sie irgendwann von der Uni flog.

BOUCHERS Musik ist glücklicherweise weit weniger klischeebehaftet. Ganz im Gegenteil ist das Besondere an der Kanadierin, dass ihr Sound schwer einzuordnen ist. Es wirkt genialistisch, wie sie 90’s-Ravesynthies mit asiatischen Harmonien kombiniert. Wer nun aber denkt, die Musikerin mache bizarre Weltmusik, der irrt. BOUCHERS Songs strahlen eine hypnotisierende Düsternis aus, die Witchhouse und Goth-Hörer_innen nicht unbekannt sein dürfte. Sie lässt die meisten Witchhouse-Künstler_innen jedoch links liegen, da sie es im Gegensatz zu ihnen schafft, richtige Songs zu schreiben.

BOUCHER selbst bezeichnet ihre Musik als „Post Internet”. Die treffendere Bezeichnung wäre „Cybertechno”. GRIMES macht elektronische Musik, die ein verworrenes Dickicht aus verschiedensten Zitaten und Stilen ist. Sie profitiert von den offenen Archiven des Internets, von dem einfachen und schnellen Zugang auf Musikstile aus der ganzen Welt. In dem Moment, in dem man denkt, man habe das System GRIMES durchschaut, wird man von der Sängerin eines besseren belehrt.

Das liegt auch an ihrem ausgefallenen Songwriting. Die Kanadierin hat ein Händchen für die richtigen Melodien. Zuckersüß können diese sein, eingängig sind sie allemal. Doch anstatt simple Popsongs zu komponieren, bastelt BOUCHER lieber komplexe Gebilde. Immer wieder bricht der Beat los, um in der nächsten Sekunde zu stoppen, einem Pianoriff zu weichen oder sich in eine Fläche aufzulösen. Es gibt Momente, da überlappen sich die Tonspuren, ein Durcheinander aus verschiedenen Stimmen entspinnt sich, hier eine ein Technoriff, dort ein Ravebass. Wenig später sind ein Breakbeat und eine Synthiefläche alles, was BOUCHERS Elfenstimme begleitet. Dass ihre Songs in der Regel nur aus einer einzigen Akkordfolge bestehen, fällt da gar nicht weiter auf.

Schon auf ihrem 2010 erschienen Erstlingswerk Geidi Primes reihte sich ein brillianter Song an den anderen. Auf Visions hat sich daran nichts geändert, nur wirken die Lieder auf ihrem neuesten Album wie aus einem Guss und weniger verspielt. Die düster wabernden Techno-Bässe, die reverbüberladenen Synthie-Flächen und BOUCHERS Stimme harmonieren perfekt miteinnander. Auch ist es der Musikerin gelungen, ihren Gesang weiter zu verfeinern, der sich auf Visions von all seinen Facetten zeigt: Mal ist ihre Stimme ein zartes Hauchen, mal ein jammerndes Jaulen, mal ein druckvolles Schreien. Dabei erreicht sie oft Höhen, die man sonst nur aus chinesischen Opern kennt.

Was über all dem schwebt, das ist BOUCHERS Sinn für die richtige Ästhetik. Alles was die kanadische Musikerin macht, hat einen starken Wiedererkennungswert. Das gilt sowohl für ihre Musik als auch für ihre Videos. Während sie sich im Video zu „Crystal Ball” als schwarz gekleidete Waldhexe mit einem turmhohen Hut auf dem Kopf präsentiert, sitzt sie im Clip zu „Oblivion” in der Umkleide-Kabine eines Footballstadions umgeben von durchtrainierten Männerkörpern und hüpft mit einer Gruppe euphorisierter Fans auf der Tribüne.

Es besteht kein Zweifel: CLAIRE BOUCHER hat das Zeug dazu, richtig groß zu werden. Größer noch als BRITNEY SPEARS. Denn was BOUCHER der ehemaligen Ikone unzähliger Teenager voraus hat, sind ihr Charme und ihre Lockerheit. Chapeau Miss BOUCHER!

Links: Arbutus Records / Free Download Geidi Primes & Halfaxa

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A  VERY SPECIAL CHRISTMAS, NOW & THEN

Was würde sich als Analysegegenstand des Mainstreams besser eignen, als eine hochwertige Weihnachtskompilation, deren Erfolgsgeschichte mittlerweile drei Dekaden umspannt? Geboren in den tiefsten Achtzigern, bildet A Very Special Christmas seither das Spektrum der zeitgenössischen Moden ab und hat in mittlerweile sieben Teilen einen Erlös von über 100 Millionen US-Dollar zu wohltätigen Zwecken eingespielt. Mehr als jede andere Benefizaktion der Musikindustrie. Wir messen die aktuelle an der ersten Ausgabe und stellen mit wissenschaftlicher Nüchternheit die bahnbrechende These auf: Manches war früher einfach besser.

Die Marke A Very Special Christmas ist eine Erfindung von JIMMY IOVINE, Musikproduzent und gläubiger Katholik, der seinem verstorbenen Vater mit einem Weihnachtsalbum die letzte Ehre erweisen wollte. IOVINES Frau VICKI entwickelte 1987 die Idee eines Benefizalbums für die Paralympics. Alle waren begeistert, die Plattenbosse von A&M griffen tief in ihre Taschen, der nicht ganz jugendfreie Künstler KEITH HARING lieferte das Artwork. Auf der ersten Scheibe von ‘87 stehen große Namen: SPRINGSTEEN, PRETENDERS, MADONNA, RUN DMC, STEVIE NICKS, WHITNEY HOUSTON, BRYAN ADAMS und U2.

A Very Special Christmas entstand zu einem Zeitpunkt, als die Musikindustrie einen wirtschaftlichen Strukturwandel durchmachte. In der Süddeutschen Zeitung verortet JOHN MELLENCAMP diesen Prozess mit seiner Kulturkritik der Musikindustrie in die Periode der späten Achtziger und frühen Neunziger. „Plattenfirmen betrachteten sich auf einmal nicht mehr als Vermittler von Musik, sondern als Teil der Wallstreet-Manipulatoren. Firmen wurden übernommen, fusioniert, verkauft – Börsengänge folgten.“ Klangmaterial und Produktionsrahmen von A Very Special Christmas waren davon anfangs nicht betroffen, die ersten zwei Teile der Serie entstehen noch im ancien regime (MELLENCAMP ist übrigens auf Nummer Zwei zu hören). Auf welche Weise die sich ändernden wirtschaftlichen Parameter der Maschine Mainstream mit der Musik rückkoppeln, lässt sich an den späteren Ausgaben von A Very Special Christmas sehr gut abhören.

Um den Vorwurf der Unfairness gleich auszuräumen – die Verkäufe haben zwar nachgelassen, doch noch immer ist eine Menge Geld im Spiel und das Format lebt. Compilations wie Bravo oder Thunderdome gehen immer wieder, jede Generation scheint aufs Neue das Bedürfnis nach Weihnachtsliedern in der verpoppten Darbietung ihrer Contemporaries zu haben. Gerade erst bog THE BIEBER mit „Under the Mistletoe“ um die Ecke.

 SUPERSTARS VS MEGASTARS

Wie schneidet das mit Vierfach-Platin ausgezeichnete Original von 1987 nun gegen den neuesten Teil von 2009 ab? WHITNEY HOUSTON war fresh. RUN DMC sowieso. Das restliche Angebot reichte von alten Hasen wie STEVIE NICKS bis BRUCE SPRINGSTEEN. An ihrer Markttauglichkeit, die PRETENDERS waren seit 10 Jahren im Geschäft, gab es keinen Zweifel. NICKS steuerte zu FLEETWOOD MACS Monsteralbum Rumours aus dem Jahr 1976 mehrere Hits bei, SPRINGSTEENS großer Durchbruch gelang sogar ein Jahr früher mit „Born To Run“. NICKS und SPRINGSTEEN erlangten den Weltruhm gleichermaßen nicht über Nacht. Sie waren keine Sternchen oder Gelegenheitsjobber, angespült aus anderen Entertainmentsparten, um zum richtigen Zeitpunkt der Idee eines Marketingstrategen ihr menschliches Gesicht zu verleihen. Vielmehr hatten sie sich an den überaus intakten Durchlässigkeitsfiltern des Mainstream vorbeigekämpft. Was noch bemerkenswerter ist: Mit Ausnahme ALISON MOYETS sind sämtliche Künstler von damals noch immer erfolgreich im Geschäft. Eine Vielzahl von ihnen hat das Management längst selbst übernommen, sofern sie jemals fremdgesteuert waren. 1987, das war vor 25 Jahren.

Heute reden wir über den Niedergang der Musikkultur. Da, wo das Big Business verhandelt wird, ist für den Aufbau von langfristigen Karrieren keine Risikobereitschaft mehr vorhanden. Popularität speist sich aus einer mehrkanaligen Sichtbarkeit, die zumeist viel Geld kostet. Klar, dass auf der siebten Compilation von 2009 die Kindertraumtotengräber MILEY CYRUS, ASHLEY TISDALE und CARRIE UNDERWOOD ihre überzogenen Koloraturen einsingen durften. Wir kennen sie aus Funk und Fernsehen. Kein Plattenboss hätte WHITNEY HOUSTON neben diese Disneyfiguren platziert, es wäre zu viel der Scham gewesen, zu offensichtlich die gesangliche Überambition der Epigonen neben der maßvollen Dramaturgie des Originals. Nun macht Houstons früher Tod diese Gegenüberstellung unmöglich.

 SOUND

Die Eskalation und Überreizung der gesanglichen Stilmittel findet ebenso ihren Wiederhall im Technischen. JIMMY IOVINE, dieser große Produzent, überwachte die klangliche Konsistenz der ersten zwei Alben von ‘87 und ‘92. Als Assistent drehte er bei den letzten Aufnahmen von JOHN LENNON an den Reglern und produziert heute für JAY-Z. Kaum einer bewegt sich so leichtfüßig zwischen den Genres wie IOVINE. Wenig verwunderlich, dass A Very Special Christmas experimentelle Momente hat. Da sind die irritierenden Dissonanzen im Intro zu „Winter Wonderland“, bevor ANNIE LENNOX ihren seidenen Guttural hineingibt. Auch der Text des Weihnachtsliedes ist hier ironisch abgewandelt. Oder dort, die Background-Girls bei JOHN COUGAR MELLENCAMP verfallen am Ende von „I saw Mommy kissing Santa Claus“ in die Stimmlage pubertierender Weihnachtsengel. Zum Schießen. Die Kompilation von 2009 bietet dergleichen nicht.

 SONGS

„Christmas (Baby Please Come Home)“ ist auf beiden Platten vorhanden, damals in der Einspielung von U2 versus LEIGHTON MEESTER im Jahr 2009. „Leighton who?“, werdet ihr fragen. Eigentlich als Darstellerin aus der Serie Gossip Girl bekannt, reüssiert sie hier zum ersten Mal als Sängerin, ist neben CYRUS, TISDALE und VANESSA HUDGENS das vierte Fernsehdarling auf der aktuellen Kompilation. Wo BONO tapfere Inbrunst aufzubringen vermag und das Produzententeam den ollen Song zur dramatischen Rocknummer aufbläst, herrscht bei MEESTER vollkommene Langeweile samt Radiosound. Der subtile Shuffle von LARRY MULLEN wird in der Neufassung durch einen das Chinabecken grob durchdreschenden Retortendrummer ersetzt, der Leadsynth verkündet lauthals seine En Vogueness. BONO ist den Tränen nahe, seine Trauer kommt von Herzen – wenn er beim Einsingen der triefenden Lines an verhungernde Aidskinder dachte, ist uns das einerlei. Der Zweck heiligt alle Mittel. Umnebelt von Autotune versucht MEESTER erst gar nicht, aus ihrem Sprechstimmumfang emporzusteigen, raunt uns ihren Text etwas unbeholfen-lasziv ins Ohr.

Wie Sex wirklich geht, machte MADONNA 1987 mit „Santa Baby“ vor. Bestimmt hat sie den rotbemützten Pummel später vernascht und Millionen Kids um ihre Geschenke gebracht. Ach, und die Streicher ergehen sich in kontrapunktischer Opulenz, Bögen von warmer Kompression strömen durch die Kanister. All Killer, no filler? Nein, zwei drei Nummern sind furchtbar. Zum Beispiel der Folkbarde BOB SEGER mit „Little Drummer Boy“. Wir sehen es ihm nach, er hat das kurze Streichholz unter den Weihnachtsliedern gezogen. ALISON MOYET wagt mit „A Coventry Carol“ eine Barocknummer in Acapella. Das erfordert Mumm, alle Achtung. Aber auch in diesen Entgleisungen äußert sich noch die gesunde Risikobereitschaft.

„Es ist ja nicht so, dass die Menschen Musik nicht mehr lieben. Es ist nur die Art, wie sie angeboten wird, die nicht mehr viel Menschliches hat“, schreibt MELLENCAMP. Kulturpessimismus? Mitnichten, der alte Mainstream hat so viel populäre Hochkultur produziert, dass wir davon noch lange zehren können. Wer braucht schon ein weiteres Weihnachtsalbum, wenn es A Very Special Christmas in der ersten Ausgabe von 1987 gibt.

 

//Empfehlung

Im Zuge der digitalen Revolution haben sich die Standards für Musikalben deutlich verändert. Galt es lange Zeit als Tugend, ein Album erst dann zu veröffentlichen, wenn es wirklich fertig war, erscheinen heute immer mehr Alben, deren Qualität sich kaum von der eines Demotapes unterscheidet. Abgesehen davon, dass Ideen nicht ausformuliert werden, ist der Sound schlecht abgemischt, die Instrumente klingen schief.

Als Lo-Fi oder Low-Fidelity wird eine solche Ästhetik bezeichnet. Seit Anbruch des digitalen Zeitalters ist Lo-Fi-Musik zu einem Massenphänomen geworden. Viele KünstlerInnen versuchen erst gar nicht, das nötige Kleingeld für ein großes Aufnahmestudio zusammenzukratzen, sondern nehmen ihre Songs gleich in den eigenen vier Wänden am Computer oder mit einem Kassettenrekorder auf. Digitaler Kommunikationswege sei dank, können sie ihre selbstgemachten Aufnahmen anschließend problemlos verbreiten.

Die U.S.-amerikanische Künstlerin MEGHAN REMY aka U.S. GIRLS kann dieser stetig wachsenden Do-it-Yourself-Fraktion zugerechnet werden. Ihre ersten beiden Alben waren noise-verliebte Schlafzimmer-Produktionen, die klangen, als seien sie lediglich mithilfe eines Diktiergeräts eingespielt worden. Im November vergangenen Jahres legte die Musikerin nach. Auf dem niederländischen Label K-RAA-K veröffentlichte sie ihren dritten selbstproduzierten Longplayer U.S. Girls on KRAAK.

Dort bleibt sich die Musikerin nicht nur treu was die Produktion betrifft, auch in Puncto Songwriting steht U.S. Girls on KRAAK in der Tradition seiner Vorgänger. Wie gehabt verzichtet REMY in den meisten ihrer neuen Stücke auf klassische Lied-Elemente wie Intro, Strophe und Refrain. Stattdessen finden sich dort skizzenhafte Klangkollagen, die sich, wenn sie nicht von einer schnarrenden Rhythmus-Pattern zusammengehalten werden, in dissonantem Geklimper und ekstatischem Noise verlieren.

Ein ähnliches Non-Songwriting zelebrierte die Künstlerin ANNIE SACHS aka TICKLEY FEATHER auf ihrem 2009 bei PAW TRACKS erschienenen Album Hors D’Oeuvres. Genau wie REMY widersetzte sich SACHS dem Diktum Verse-Chorus-Verse zugunsten freierer Formen: Ein Beat, zwei Akkorde und eine Melodie mussten reichen, manchmal sogar ganze fünf Minuten lang. Das kann nerven. SACHS hingegen schaffte es zu begeistern und in einigen Songs sogar zum Punkt zu kommen. Man erinnere sich nur an „Trashy Boys“ mit seiner hymnenhaften Gesangsmelodie.

Auch auf U.S. GIRLS on KRAAK gibt es zwei Stücke, die äußerst straight und weniger kakophon sind als der Rest. Und diese überzeugen auf Anhieb: Da wäre zum einen das Lied „Island Song“, das eine eingängige Melodie besitzt, die zunächst von einem Klavier gespielt und wenig später von REMYS kraftvoller Stimme aufgegriffen und variiert wird. Ungewöhnlich harmonieverliebt klingt auch die wabernde Klangfläche, deren Noise-Level auf ein angenehmes Maß reduziert ist. Der straighte Beat lädt zum Tanzen ein. Ähnlich sieht es bei dem Cover des 90er-R’n’B-Hits „The Boy Is Mine“ aus, dem die Musikerin Mittels Entschleunigung eine imposante Deepness und Epik verpasst hat.

Die beiden Lieder deuten an, wo die Reise bei U.S. GIRLS hingehen könnte. So kann REMY, wenn sie es will, Popsongs schreiben, die von gleicher umwerfender Qualität sind wie die Lieder einer CLAIRE BOUCHER alias GRIMES. Das hat offenbar auch das Label FATCAT erkannt, das die Musikerin Ende 2011 unter Vertrag nahm. Man darf gespannt sein, ob dort unter professioneller Anleitung weitere Stücke à la „Island Song“ entstehen. Zu wünschen wäre es auf jeden Fall.

Links: Bandcamp / MyspaceKraak

(Foto: FAT CAT)



//Empfehlung

Als rockaffiner Teenager kommt man an NIRVANA nur schwer vorbei. Ich selbst war 15 Jahre alt, als ich die Band für mich entdeckte. Die rohe Gewalt ihres Debütalbums Bleach gab mir genau das, was ich damals brauchte. Einen Winter lang interessierte mich nichts anderes. Ich las COBAINS Tagebücher, zwei Biographien und sah mir auf MTV sämtliche Dokumentationen über die Band an. Dabei stieß ich auch auf den Film „1991 – The Year Punk Broke“ von DAVE MARKEY, der während der legendären Tour von NIRVANA, SONIC YOUTH, DINOSAUR JR. und den RAMONES durch Europa im August 1991 aufgenommen wurde. An den Film heranzukommen gestaltete sich damals äußerst schwierig, da die VHS nicht mehr verkauft wurde. Das hat sich jetzt zum Glück geändert: 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung erscheint MARKEYS Dokumentation endlich auf DVD.

MARKEYS Film lohnt sich allein schon wegen der Szenen mit KURT COBAIN. Wir schauen dem Sänger dabei zu, wie er sich, sichtlich vergnügt, von SONIC-YOUTH-Bassistin KIM GORDON schminken lässt. Oder sich lachend auf dem Boden eines Backstage-Raums wälzt. Der KURT COBAIN aus MARKEYS Film ist das krasse Gegenteil des verdrossenen und drogenabhängigen Rockstars, der er einmal werden sollte. Diesen Eindruck bestätigte MARKEY gegenüber dem Jounalisten DAVID BROWNE: “Diese Tour war für alle, die dabei waren, der letzte Moment der Unschuld”, sagt er in BROWNES Buch Goodbye 20th Century, das 2009 erschien.

Das restliche Material ist nicht minder interessant, zeigt es die einzelnen Protagonisten von einer Seite, die ich so noch gar nicht kannte. Besonders überrascht haben mich die Entertainer-Qualitäten THURSTON MOORES, den ich mir wesentlich ernster vorgestellt hatte. In MARKEYS Film dreht der SONIC-YOUTH-Sänger so richtig auf: Großartig die Szene, in der er, einem Prediger gleich, aus seinem Hotelfenster lehnt und Passanten (eine Mutter mit Kind) auffordert zu zeigen, dass sie Menschen sind und keine Enten. Oder die, in der er ein paar deutsche Punk-Kids fragt, was die Jugend machen soll, wenn die Industrie ihre Kultur monopolisiert. Als diese nur schüchtern die Augenbrauen hochziehen, dreht sich MOORE in die Kamera und sagt: „Ich denke, wir sollten den betrügerischen Kapitalismus zerstören, der die Jugendkultur zerstört durch Massenvermarktung und kommerzielle Paranoia-Manipulation. Als erstes müssen wir die Plattenfirmen zerstören“.

Eindrücke wie diese sind es, die den Film zu einem bedeutenden Zeugnis seiner Zeit machen. Wie keinem anderen ist es MARKEY gelungen, die letzten Augenblicke kurz vor dem weltweiten Erfolg von NIRVANAS zweitem Album Nevermind einzufangen.

Links: dave markeys tour-tagebuch


//Empfehlung

Es kursiert das Gerücht, Export aus Berlin beschränke sich nur mehr auf innovative Erfrischungsgetränke und Gentrifizierungsdebatten, wahlweise diskussionslustige Betrunkene und frische Umbauideen. Neue, aufregende Bands aus der Stadt vernimmt man hingegen eher selten. Selbst Neuankömmlinge hört man sagen: „Irgendwie alles so kleinteilig hier.“ Doch nun kommt die Ausnahme: Fenster.

Fenster sind schlichtweg wundervoll und wer sie einmal live erlebt, wird feststellen, dass diese Band alle Erwartungen übertrifft, die sich nach einem Hördurchlauf ihres Albums Bones aufbauen. Schwer zu beschreiben, was da auf der Bühne passiert. Es stimmt einfach alles.

JJ, Jonathan und Lukas halten sich an den Grundsatz „weniger ist mehr“ und schaffen mit minimalen Instrumentierungen und reizenden Zeilen raumfüllende Inszenierungen des Schönen. Nicht zu verwechseln mit kantenlosem Wohlfühlfolk. Fenster wählen mit Bedacht, wann eine karge Banjomelodie durch einen Kanon von Glockenspiel und Keyboardorgel aufgehoben wird, und wann JJs Gesang, der mitunter an Nina Nastasia erinnert, alles wieder umwirft. Spannungsbögen bekommt die Band wohl täglich zum Frühstück kredenzt.

Auf Bones verwandeln sie scheinbar willkürlich zusammenspielende Hintergrundgeräusche zu bezirzenden Liedstrukturen. U-Bahn-Gemurmel, Tambouringerassel und Stimmkaskaden, die auch mal die Wörter Fleet und Foxes im Hinterkopf aufblinken lassen, treten in den Vordergrund, knallende Türen und schepperendes Glas geben den Rhythmus vor.

Der glückliche Umstand „richtige Menschen, richtige Zeit, richtiger Ort“ trifft auf Fenster zu. Denn eins haben sie vielen verwandten Bands voraus: Ihre Musik spielt im Hier und Jetzt, nicht etwa auf amerikanischen Straßen oder in englischen Vororten des letzten Jahrhunderts. Ergo können sie sich dem Erobern von geneigten Herzen gar nicht entziehen, was sich bei jedem ihrer zahllosen Liveauftritte auf’s Neue zeigt.

Wir empfehlen, es uns nachzutun, und sich für Minuten von Fenster entrücken zu lassen. Wenn nicht im gleichen Raum, dann durch Bones, dass man sich hier anhören und kaufen kann.

(Foto: Maxime Ballesteros)

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