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Young-Echo Nexus

Young Echo – Nexus (Ramp Recordings 2013)

Der Dub: Erschaffen aus den Fragmenten des Raggae und der Kultur der sound systems der großen karibischen Community, die hier eine neue Heimat gefunden hat und die diese Stadt prägt wie sonst kaum eine andere auf den britischen Inseln. The Wild Bunch: Tricky, Massive Attack, Unfinished Sympathy. Portishead. Glory Box. Der Geburtsort einer der wirkmächtigsten und folgenreichsten Genres der elektronischen Musik: Trip Hop. Und später, nach der Jahrtausendwende, als die letzten Nachwehen dieser schleppenden, rauen, sehnsuchtsvollen Beats verklungen waren, eine Neugeburt, wieder im Geiste der westindischen Tradition: the second city of dubstep.

Bristol, Südwestengland. Wohl nicht zuletzt ob ihrer fehlenden Größe konnten sich hier stets stärker als in der nur wenige Autostunden östlich gelegenen Hauptstadt des Empire musikalisch eng verwobene Szenen festsetzen und ausbreiten und dabei Stile prägen, die es auf ihrem Zenit noch immer vermochten, den Geschmack interessierter Kreise auf dem gesamten Kontinent zu bestimmen. Derzeit mögen die Hypes eine kleine Pause einlegen, aber eines bleibt gewiss für jene Musiker, die heute in Bristol leben und arbeiten: In kaum einer anderen Stadt bewegt man sich von vornherein in einem so stark aufgeladenen, ja metaphysisch überhöhten Spannungsfeld kanonisierter musikalischer Vergangenheit.

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OLD APPARATUS – Derren EP / Realise EP / Alfur EP / Harem EP

Es ist nicht ganz klar, wann die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Aber ach, was sind wir es leid. Wahrscheinlich fing es nicht an mit BURIAL; war es BANKSY? Egal. Was die Musik betrifft, so erscheint es am einfachsten, die Ursache wie üblich ‚im Internet’ zu verorten. Gewiss ist jedenfalls: Jemand sollte all den jungen Produzenten einmal mitteilen, dass die Sache sich erledigt hat, dass alles zumeist nur noch wie ein müder Abklatsch eben jenes BURIAL wirkt: Künstlerische Anonymität.

Sie macht natürlich, ganz oberflächlich betrachtet, viele Dinge einfacher, und gelegentlich scheint sie sogar unumgänglich, und ohne Frage hat die virtuelle Welt vieles in dieser Hinsicht erst ermöglicht mit ihren ungezählten unbeleuchteten Ecken, den Foren und Newsgroups, der Pornografie und der Kriminalität, und natürlich der Aufklärung, betrachtet man sie nun als tatsächlich oder als nur vorgeblich: ANONYMOUS wäre nichts ohne das Internet; eine GUY-FAWKES-Maske allein schützt nur schwerlich vor staatlichem Zugriff. Von Letzterem abgesehen aber dient Anonymität zumeist einem gänzlich anderen Zweck: Sie stellt ein bequemes Mittel bereit zur kognitiven Verantwortungsverschiebung. Ist mein Alter Ego erst einmal etabliert, so eröffnet sich die Möglichkeit, die Persönlichkeit zu spalten; nicht ich habe es getan, sondern der/die/das Andere, das zugleich Ich und nicht Ich ist. Man frage einmal nach bei der Kriminalpsychologie.

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In der Musik jedoch funktioniert dies nur bedingt, und deshalb erstaunt es umso mehr, dass es in den vergangenen Jahren fast schon zur Normalität geworden ist, jedenfalls abseits des Mainstream, mit Werken konfrontiert zu werden, deren Urheberschaft bewusst im Unklaren gelassen wird. Man könnte versucht sein, diesen Trend positiv zu deuten, denn Anonymität könnte ja auch den Verzicht auf jegliche Eitelkeiten heißen; zumeist ist es jedoch lediglich der Versuch der Immunisierung gegen Kritik. Häufig heißt es, man bleibe lieber verborgen, damit sich der Kritiker/Hörer nicht mit der Person auseinandersetze, sondern allein mit der Musik. Aber das ist natürlich Blödsinn. Allzu leicht passiert das genaue Gegenteil; nicht die Musik wird zum Mittelpunkt des Diskurses, sondern die Suche nach der Person hinter dem Werk.

Das Konzept anonymer Urheberschaft in der Musik funktioniert dann und nur dann, wenn das geschaffene Werk tatsächlich Eigenständigkeit gewinnt; wenn es den Autor in gewisser Hinsicht transzendiert und dieser somit im Grunde bedeutungslos wird. Das gewählte Pseudonym wird zum ‚Autor’. Bei BURIAL ist genau das der Fall; es fällt wohl kaum jemandem auf Anhieb der wirkliche Name ein, so er denn überhaupt stimmt; die Kritik feiert BURIAL, nicht WILLIAM BEVAN, dessen künstlerische Sprache so erhaben ist und unverkennbar einzigartig, dass die Idee singulärer Urheberschaft, etwas doch schlicht Menschliches, hinter solch unwirklicher Musik fast zu banal erscheint. Aber ein solcher Triumph des Werkes über den Autor ist die absolute Ausnahme, nicht die Regel.

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Allerdings, manchmal gelingt es eben doch, und ein Beispiel ist das britische Künstlerkollektiv OLD APPARATUS. Gegründet 2010 und zunächst in Erscheinung getreten mit Veröffentlichungen auf MALAS Label DEEP MEDI MUSIK, hat sich das Londoner Quartett im vergangenen Jahr durch die Gründung des eigenen Labels SULLEN TONE, das ausschließlich der Veröffentlichung ihrer eigenen Platten gewidmet ist, gänzlich vom gewohnten britischen Musikzirkus entfernt. Was das Konzept künstlerischer Anonymität angeht, gehen OLD APPARATUS dabei in gewisser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter als BURIAL, und erstaunlicherweise scheitern sie dabei nicht. Nicht nur die tatsächlichen Namen der Mitglieder bleiben verborgen hinter Pseudonymen, sogar diese Künstlernamen selbst gehen auf im Kollektiv: drei der vier EPs, die 2012 auf SULLEN TONE erschienen sind – Derren, Realise, Alfur und Harem – wurden jeweils komplett von einzelnen Mitgliedern geschrieben, vertont, und produziert; nur bei der ersten, Derren, handelte es sich um eine genuine Gemeinschaftsarbeit. Trotzdem erschienen sämtliche Platten unter dem Namen OLD APPARATUS; der Beitrag des Einzelnen geht auf in der Identität des Kollektivs. Hinzu kommt eine bis ins Detail ausgearbeitete, kohärente Gesamtästhetik, die auch zum Ausdruck kommt in den Videos, der Gestaltung der Plattencover, der Website, bei der Visualisierung der Live-Auftritte: Alles wird ohne Unterscheidung der Entität OLD APPARATUS als Urheber zugewiesen.

Musikalisch war das Quartett aufgrund der frühen Verbindung zu MALA allzu schnell im Dunstkreis von Dubstep abgeheftet worden, was schon bei den frühen Releases höchstens oberflächlich überzeugen konnte. Spätestens seit dem Wechsel zum eigenen Label und der Verfestigung der künstlerischen Vision ist eine solche Klassifizierung jedoch Makulatur. Die Stücke von OLD APPARATUS nehmen alles auf, von Post-Rock über Hip-Hop und R&B zu Noise und Industrial, mit zahllosen Referenzen, die auf eine intensive Beschäftigung mit dem gesamten Kanon vorwärtsgewandter britischer Musik der vergangenen 25 Jahre schließen lässt; mit einem besonderen Augenmerk auf Trip-Hop, den Katalog einflussreicher Labels wie WARP oder NINJA TUNE, und, ja, selbstverständlich auch frühem Dubstep. Es ist, auf den Punkt gebracht, Musik, die so nur im Vereinigten Königreich, ja wahrscheinlich sogar nur in London überhaupt denkbar erscheint.

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Die vier EPs unterscheiden sich dabei durchaus beträchtlich. Die einzelnen Producer kommen aus teilweise fast schon gegensätzlichen musikalischen Richtungen, und diese Prägungen finden direkten Niederschlag im Sound. Während das gemeinsam geschaffene Werk Derren noch am ehesten im Post-Dubstep zu verorten ist, insbesondere das dritte Stück, „Dealow“, schielen die Texturen der zweiten EP Realise eher in Richtung einer gebrochenen, desillusionierten Vision des Dancefloor: Man kann hierzu wahrscheinlich tanzen, wenn man bereit ist, alle Hoffnung fahren zu lassen. In der klaustrophobischen, dystopischen Suite des finalen Titeltracks findet die Tetralogie ihren ersten Höhepunkt. Alfur vereint den WARP-Katalog mit zahlreichen Referenzen zum Post-Rock, und weist mit dem Fabeltrack „Schwee“ die wahrscheinlich einzige perfekte ‚Single‘ des Kollektivs auf. Mit Harem schließlich findet die Reise ein geradezu sublimes Ende mit der für sich genommen wohl stärksten EP; die Strukturen verflüchtigen sich in ungeordnetem, psychedelisch angehauchtem Ambient, dequantisierte Rhythmen und bedrückende, ausgreifend angelegte Flächen lassen Harem tatsächlich wirken wie das Ende eines drogeninduzierten Trips, dessen Anfang nur noch verschwommen Teil der eigenen Erinnerung zu sein scheint. Das letzte Stück „Octafish“ endet in stiller, kontemplativer Resignation; ein Abschluss, der keine Auflösung bereithält. Jedoch, trotz dieser durchaus beträchtlichen Unterschiede in der Herangehensweise und im Sound, die auf jeder EP deutlich zum Ausdruck kommen, bleibt jeder Track stets unverkennbar ein Werk von OLD APPARATUS, nicht eines einzelnen Mitglieds.

Es ist das so konsequent, so bewusst durchgehaltene Gesamtkonzept, das die Stücke zusammenhält. OLD APPARATUS verkörpern mit ihrer Musik eine selbstverständliche Urbanität; in ihrem Werk kommt, und hier ähnelt ihr Ansatz durchaus dem BURIALs, der Charakter der spätmodernen Stadt zum Ausdruck, wodurch ihre Namenlosigkeit gerade erst sinnhaft wird: der Eklektizismus, die gewollten Brüche und die Mannigfaltigkeit der stilistischen Einflüsse eröffnen einen eigenen großstädtischen Kosmos, die Musik wird zum adäquaten Abbild der Metropole im 21. Jahrhundert. Das Dunkle, Bedrohliche der Musik, die bedrückte und bedrückende Stimmung, die sich durch praktisch alle Stücke als das eine prägende Leitmotiv zieht, verweist dabei auf die Isolation des Individuums, auf seine Entfremdung, wenn man es so betrachten mag; es ist dieser Kontext, der die anonyme Urheberschaft nicht nur konsequent, sondern geradezu unausweichlich erscheinen lässt; und nicht nur deshalb gehörten die vier EPs von OLD APPARATUS zu den faszinierendsten musikalischen Veröffentlichungen des Jahres 2012.

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HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter NO FEAR OF POP und schreibt auch sonst hier und da über Musik

(Foto & Artwork: SULLEN TONE)

No Fear Of Pop empfiehlt:

LAUREL HALO – Quarantine & King Felix

„Words are just words / Words are just words / That you soon forget.” Mit diesen Zeilen endet Quarantine, das jüngste Werk der New Yorker Künstlerin LAUREL HALO, das ganz offiziell als Erstling firmieren darf, waren es in den vergangenen zwei Jahren doch lediglich einige EPs und eine Reihe von Remixen, mit der die in Michigan in Rufweite Detroits aufgewachsene Musikerin auf sich aufmerksam gemacht hatte.

Jedoch täte man ihr unrecht, betrachtete man jenes Frühwerk lediglich als zufällige Ansammlungen voneinander isolierter Tracks: Schon mit King Felix, Hour Logic und Antenna hatte HALO klar gemacht, dass es ihr nie um den Song an sich gehen würde, sondern immer um etwas darüber Hinausweisendes, um ein Konzept, welches den einzelnen Track zu transzendieren vermag. Auf King Felix im Jahr 2010 war das solider und sehr zeitgeistiger Elektropop, die EP bestand aus „Songs“ im traditionellen Sinne, getragen von Halos glockenklarer Stimme, die, wie sie nie zu verstecken versuchte, mithilfe von Autotune in der korrekten Tonlage gehalten wurde und die mit genug Hall und Echo soweit verfremdet worden war, dass man die Autorin nicht mehr unbedingt als sie selbst erkennen konnte. Antenna versammelte beatlose Meditationen, Synthesizer-Spielereien, Klangexperimente im eigentlichen Sinne, zusammen gehalten nur durch die schiere Wucht von HALOS Vorstellungskraft.

Hour Logic schließlich, im Sommer 2011 fast zeitgleich mit Antenna auf  dem Hipsterlabel der Stunde HIPPOS  IN TANKS erschienen, verdeutlichte dann erstmals das ganze Potential einer außergewöhnlichen, ja wahrscheinlich einzigartigen Künstlerin. Die größtenteils ohne Vocals erschaffenen Tracks negierten die Grenze zwischen Synthpop, hypnagogischer Psychedelik und Spielarten eher klassischer Tanzmusik wie Techno oder House so konsequent, dass nicht mehr ganz deutlich war, zu welcher Gelegenheit man solch höchst intellektuelle Musik eigentlich hören sollte: Tanzmusik, zu der man nicht tanzen konnte, hypnotische Musik, zu vertrackt und hektisch zur Kontemplation. So blieb nur die Auseinandersetzung. All dies kam noch einmal verstärkt zum Ausdruck im Titelstück, einem neunminütigen Monster, einer Apotheose des Techno, einem Track, der aus rein theoretischem Interesse die Bedingungen der Möglichkeit von Tanzmusik auszuloten schien: einem Prolegomenon einer jeden künftigen elektronischen Musik. Mit anderen Worten, Kunstkacke.

„Words are just words / Words are just words / That you soon forget.” Nun also Quarantine, LAUREL HALOS Debütalbum. Und erneut ist ihr keineswegs an Erfolgsrezepten gelegen, stattdessen wurde wieder, schon wieder, scheinbar der Reset-Knopf gedrückt. Wo King Felix mithilfe von HALOS Popsongs erschuf, wo Antenna mäandernde Studien entwarf, und wo Hour Logic die Grenzen des Techno überschritt, überall dort setzt Quarantine erst an, die vergangenen Ideen und Konzepte zugleich aufnehmend und schroff verwerfend. Plötzlich ist HALOS Stimme wieder im Vordergrund, schmerzhaft im Vordergrund mag man versucht sein zu urteilen, schließlich wurde diesmal auf den Einsatz technischer Hilfsmittel so gut wie ganz verzichtet. Kein Autotune, kein Hall verwandeln die stimmlich nicht ausgebildete und bisweilen unsichere Musikerin in eines dieser makellosen, entmenschlichten Wesen, die die Charts bevölkern und an deren musikalischer Duktus schon allzu vertraut klingt, so sehr, dass ein Vortrag wie hier: glasklare Vocals, oft ein paar Hertz über oder unter der „richtigen“ Frequenz, ungefiltert und ohne offensichtliche Effekte produziert, fast wie ein Affront erscheint.

Zumal die Mischung ebenfalls bemerkenswert ist: Der Gesang dominiert fast sämtliche Tracks, die sparsame Instrumentierung, zumeist eine größere Menge übereinander gelagerter Synth-Flächen, bleibt weit im Hintergrund, Beats sind so gut wie überhaupt nicht zu vernehmen und fungieren, wenn überhaupt, nicht als übergeordnete Strukturierung, sondern nur als subtile Unterstützung des vorhandenen, von Stimme und der oszillierenden Stimme Frequenz der Synths gehaltenen Rhythmus. Worte, so wird beim Hören schnell klar, sind eben nicht nur Worte, zumal in der Popmusik. So wie hier hat man Worte wohl noch nicht vernommen. Ob wir sie allerdings schon bald wieder vergessen haben werden, das wird sich erst zeigen. LAUREL HALO, soviel ist einmal mehr überdeutlich geworden, ist eine Suchende, und sicher wird ihr nächstes Werk einen erneuten Bruch mit überkommen Strukturen erzeugen, und vermutlich wird sie erneut zu überwältigen wissen.

Ein deutlicher Hinweis war bereits Spring, jene überaus faszinierende EP, die nur wenige Wochen vor Quarantine erschienen ist, und auf der sich drei von vier Tracks mit demselben gefilterten Orchester- Sample beschäftigen, mit Stukturen des Techno, House und Footwork spielend – eine EP, die unter dem Namen King Felix erschien, nicht LAUREL HALO, um mehr künstlerische Freiheit zu ermöglichen, wie sie mir kürzlich erzählte. Wer nach vier so unterschiedlichen Werken dennoch das Gefühl hat, andere Namen annehmen zu müssen um sich kreativ ausleben zu können, der ist, soviel scheint sicher, noch lange nicht am Ende angekommen.

Erschienen ist Quarantine bei HYPERDUB, jenem Londoner Label, das von vielen ausschließlich mit Dubstep und anderen Varianten des britischen Underground in Verbin- dung gebracht wird, das aber schon immer jenseits des Tellerrandes wegweisende Musik zu suchen bereit war. Und wegweisend, nichts weniger und nichts anderes ist Quarantine.

Links: Blog / Soundcloud

HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter NO FEAR OF POP und schreibt auch sonst hier und da über Musik

Artwork: HYPERDUB

 

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RANGERS – Pan Am Stories

Es ist schon wieder Dezember, jener Monat, in dem sich hunderte, ja tausende von Musikjournalisten hierzulande und irgendwo dieselbe Frage stellen, jene Frage, die zu stellen an sich irgendwie schon merkwürdig anmutet, die jedoch in der ganzen Flut von Jahresrückblicken nicht zu stellen schlicht niemand wagt: War 2011 ein gutes Jahr für Musik? Gut im Sinne von bahnbrechend, neudefinierend, relevant?

„Eher nicht“, würde SIMON REYNOLDS wohl entgegnen, einer der profiliertesten Journalisten der Branche, eher nicht, dies ist jedenfalls das Urteil, dass man REYNOLDS‘ jüngstem Werk entnehmen kann, Retromania: Pop Culture’s addiction to its own past, das im Frühsommer erschienen war und das seitdem Schreiberlinge diesseits und jenseits des Atlantiks beschäftigt, in sämtlichen Zeitungen und Zeitschriften, sogar in Deutschland, jenem Land, das an popmusikalischen Diskursen für gewöhnlich nicht teilnimmt und sich lieber dem neuesten Album von ICH + ICH widmet. Das war diesmal anders, jeder wollte dabei sein bei der großen Debatte um REYNOLDS’ Thesen, auch der Spiegel, auch die Spex, und so lässt sich immerhin schon einmal festhalten: Es kann kein ganz irrelevantes Jahr gewesen sein, was den Fortgang der Popmusik angeht, denn immerhin hatten wir endlich wieder was zum Reden.

Was REYNOLDS über fast 500 äußerst angenehm zu lesende, unfassbar informative Seiten ausbreitet ist im Grunde nicht mehr als dies, erstens: Es ist alles schon einmal dagewesen, und zweitens: Auch früher haben sich die Musiker schon auf früher bezogen, und drittens: Nur selten war es anders, neu, aufregend – besser – und zwar während der Ära des Post-Punk Ende der Siebziger und in der Hochzeit des Rave Anfang der Neunziger, wohl nicht ganz zufällig zwei Phasen, die REYNOLDS als junger Mann nicht nur miterlebt, sondern auch mit zwei viel beachteten und gefeierten Büchern gewürdigt hat. Seit ein paar Jahren nun ist die Popmusik endgültig in ihrer eigenen Geschichte gefangen, begünstigt durch das schier unerschöpfliche Archiv namens Internet, Revival reiht sich an Revival, und Innovation ist nur noch eine fade Erinnerung an ein glorreiches, verblasstes Gestern. Und sicher, wer möge da noch widersprechen? Ist die Popkultur das nicht tatsächlich: nur noch rückwärtsbezogen und selbstreferentiell?

Doch auch Rave und Post-Punk kamen nicht aus dem Nichts (letzterer schon gar nicht) – wie jede andere Kulturtechnik auch bezieht sich eben auch in der populären Musik alles Neue immer schon auf eine Matrix aus Referenzen an schon Gewesenes, und erst ein genaues Hinschauen erkennt die unscheinbare Grenze zwischen Retromanie – die man kritisieren mag oder nicht – und Retrophilie, die Reminiszenz als bloßen Ausgangspunkt nimmt für etwas Neues. Etwas solchermaßen Unerhörtes haben auch jene (zumeist amerikanischen) Künstler geschaffen, die der Musikjournalist DAVID KEENAN vor gut zwei Jahren unter den amorphen Begriff des Hypnagogic Pop zusammenfasste, Pop also, der sich im kulturellen Mainstream der Achtziger und Neunziger bedient und mit den Mitteln des Noise verwaschene Klangteppiche vor dem Hörer ausbreitet, um undeutlich erinnerungsgetränkte, traumgleiche Zustände zu evozieren.

Einer der aufregendsten Musiker dieser inzwischen aus dem Underground hervorgetretenen Strömung ist der Texaner JOE KNIGHT, der inzwischen an der Westküste der USA beheimatet ist und der sich dort mit seinem Projekt RANGERS und seinem Künstlerkollektiv BRUNCH GROUPE einen Namen gemacht hat als einer derjenigen, die das Spiel mit den popkulturellen Referenzen verinnerlicht haben und trotzdem – oder gerade deshalb – interessante, spannende und neuartige Popmusik machen. Schon für sein Debüt Suburban Tours (Olde English Spelling Bee, 2010), eine bedrückend-klaustrophobische Reise durch die Vororte sterbender amerikanischer Großstädte, war KNIGHT im letzten Jahr zu Recht euphorisch gefeiert worden.

Das kürzlich bei NOT NOT FUN erschienene zweite RANGERS-Album Pan Am Stories setzt an den verwaschenen Texturen von Suburban Tours an und nimmt auch den Eskapismus des Hypnagogic Pop wieder auf, transzendiert ihn aber zugleich durch Überwindung der losen Form des Genres zugunsten mitunter fast klassischer Popsongs, sogar den Gesang traut sich KNIGHT nun zu. Das Album verharrt auch keineswegs in den Achtzigern, sondern orientiert sich an Topoi sowohl des Soft- als auch des Prog-Rock ab den Siebzigern, an Genres also, die vor wenigen Jahren jeder halbwegs ernstzuehmende Künstler noch unter allen Umständen gemieden hätte. Mit einer Spielzeit von fast 73 Minuten kommt Pan Am Stories sogar vom Umfang her an die großen Konzeptwerke jener Dekade heran. Doch auch jenes „Früher“, das hier sichtbar wird, bleibt kein statischer Bezugspunkt, sondern wird ins „Jetzt“ übertragen, in Musik, die ihren Ort ohne Zweifel im Jahr 2011 hat. Dass dies alles weder sperrig noch unbequem wirkt, sondern im Gegenteil wie aus einem Guss erscheint und überhaupt Popmusik im besten Sinne ergibt, unterstreicht nur noch einmal das immense Talent, mit dem JOE KNIGHT gesegnet ist.

Noch einmal also: War 2011 ein gutes Jahr für Musik? Mit einem Album wie Pan Am Stories kann es zumindest kein ganz schlechtes gewesen sein. Und übrigens: Auch SIMON REYNOLDS ist ein großer Fan von RANGERS.

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HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter No Fear of Pop und schreibt auch sonst hier und da über Musik.