Gespräche

_MG_4350 Kopie

DER ERSTE MENSCH, DER MUSIK MACHT

Ob sich aus jeder Lüge ein eigenes Universum schält, in dem diese Lüge dann wahr ist, und ob ich Alexander Winkelmann nun wegen des rauhen Berliner Oktoberwindes, einer kaum mehr nachzuvollziehbaren Kette verschiedener Ereignisse – oder doch nur einfach so – auf einem Konzert des schottischen Performancekünstlers Momus kennengelernt habe, kann ich an dieser Stelle leider nicht weiter ausführen. Ich sollte lieber gleich auf den Punkt kommen. Auf den ersten Treffen fiel mir an dem jungen Berliner die fast schon übertriebene Höflichkeit auf, aber noch erstaunter war ich seltsamerweise darüber, dass er darauf zu bestehen schien, bei seinem vollen Namen, Alexander, gerufen zu werden. Die extreme Höflichkeit stellt sich bald als natürlicher Wesenszug, als absolut unaufgesetzt heraus, und man kann sich nur darüber wundern, wieso diese ausgesprochene Höflichkeit, die ja so vollkommen natürlich ist, nicht von allen Menschen in dieser Weise gepflegt wird. Man wusste bald, dass es auch okay war, ihn einfach „Alex“, gerne auch „Ali“ zu rufen, bloß „Winkelmann“ habe ich bisher noch niemanden sagen hören. Obwohl er selbst sehr gerne seinen Familiennamen benutzt, er hat aus diesem ein Symbol gemacht, das aussieht wie eine menschliche Triangel.

Ali Winkelmann ist immer genauso gut gelaunt, wie seine Musik menschlich ist. Er ist alles kennender Autodidakt, wie ich nun in mehreren Gesprächen mitbekommen habe. Man hört das der Musik an, die so klingt, als hätte sich jemand jahrelang ernsthaft mit dem Songschreiben beschäftigt, sich dann aber mit einem Mal von allen Regeln, Erwartungen und sonst noch allem befreit. Oh!, Verzeihung, jetzt klinge ich wie ein PR-Text. Aber es ist genau so. Alex Winkelmann musste für seine eigenartige Lo-Fi-Vision eine Phantasiesprache erfinden, und ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber ich hatte immer das Gefühl, dass dieses gesungene Phantasieprodukt Melodien und Töne transportiert, die vielen Menschen im Kopf rumsäuseln. Nur brauchten sie eben erst die Erfindung einer neuen Sprache (die übrigens alle Vokale der unsrigen Sprache umfasst), um ihren Weg in die hörbare Außenwelt zu finden.

Man muss dazu sagen, dass der Effekt dieser ganzen Sache erst in der Live-Performance Alexander Winkelmanns zu seiner vollen Geltung kommt. Es ist eine seltsame Erfahrung, zumindest bis zu jenem Moment, wenn man versteht, was hier eigentlich los ist: man erwartet ein Konzert, aber man bekommt eine Performance. Meistens fängt es mit einem Schrei an.

Der Schrei hat im Werk des jungen Künstlers eine dreifache Aussage:

A: Niemand, weder das Publikum noch der Künstler selbst, hat darum gebeten, geboren zu werden.

B: Der Schrei ist ein Losschreien (besser: Loslassen) aller Zweifel und Hemmungen.

C: Im Schrei des Künstlers fühlt sich auch der Zuhörer von allem befreit.

Jetzt ist es aber höchste Zeit, ihn selbst sprechen zu lassen. Alexander hat an einem Freitagabend zu Pasta in seine Neuköllner Wohnung geladen. Wir wollen uns über etwas größere Fragen unterhalten, Leben und Lebensführung, „so diese Geschichte“, wie er selbst sagen würde.

Alex, leben wir nicht in Zeiten, in denen der größte Wert der ist, sich selbst zu verwirklichen? Jeder kann alles werden, so scheint es, so wird es einem erzählt. Kennst du diese Phase eines Lebens, in der man gar nicht so recht weiß, was man mit sich anfangen will, weil einem ja erstmal alles offen steht? 

Das war bei mir in einer Phase während des Studiums, als ich gemerkt habe, dass sich die Werte ein wenig verschoben haben. Ich habe ja Design studiert und wusste zu einer Zeit gar nicht mehr, wie ich das vereinbaren will mit den eigenen Interessen. Im Grafikdesign hat mir die Wucht und überhaupt die Möglichkeit eines für mich interessanten Ausdrucks gefehlt.  Ich hab dann auch überlegt, ob es überhaupt noch etwas bringt, das Studium abzuschließen. Da war für mich klar, was ich machen will, aber das Medium, in dem ich mich ausdrücken wollte, das hatte ich eben noch nicht. Aber der Glaube und die Gewissheit waren von Anfang an vorhanden, und mit diesem Grundvertrauen bin ich dann auch nach Berlin gezogen. Berlin war zu der Zeit schon ein für mich gemachtes Nest. Woher aber das Grundvertrauen kam? Keine Ahnung.

Bist du jemand, der eher darauf wartet, dass die wichtigen und richtigen Dinge sich von alleine einstellen, also zu einem kommen?

Ja, auch. Warten und sich Zeit nehmen finde ich essentiell, vor allem muss man seinen Gefühlen gegenüber aufmerksam bleiben. Was natürlich nicht heißt, dass man passiv bleibt, sondern ganz im Gegenteil ständig an sich werkelt, und zwar in keinem Kontext von der Uni, sondern für sich selbst. Im Endeffekt kann ich aber sagen, dass sich alles Wichtige für mich von selbst eingestellt hat.

Kann man da (d)eine Lebensphilosophie herauslesen?

Kann man, muss man aber nicht. Das geht ja oftmals eher einher oder zusammen. Im Machen spiegelt sich eine Philosophie wider.

Einschub: Ein auffälliger Zug von Alexanders Gesprächsduktus lässt sich übrigens nur auszugsweise abbilden. In die Hauptsätze mischen sich einschubartig Geistesblitze, die nicht weiter erklärt werden können, weder von ihm selbst noch vom Interviewer. Eine quirlige Ideenfülle möchte ausgedrückt werden, das führt zu den sogenannten Sprüngen der Gedanken, der Leser muss sich das bitte dazu imaginieren.

Wolltest du dich eigentlich schon immer musikalisch äußern?

Kann ich gar nicht so genau sagen. Das ging in der Pubertät los, mit Popmusik, oder zuerst noch mit alternativen Musikszenen und Moden, die mich irgendwie angemacht haben. Gleichzeitig hat sich bei mir die Erkenntnis eingestellt, dass man ja auch mit dem Selbst spielen kann, mit der Identität. Ich war in Alabama bei einer Gastfamilie, und der Vater dort spielte Gitarre.

Wie alt warst du da?

16. Ich habe dann dort mit ein paar Schulfreunden Musik gemacht, Gitarre gespielt und, da fällt mir auch ein, schon zu diesem Zeitpunkt Texte geschrieben, auch auf Englisch lustigerweise. (lacht) Oh yeah. Damals habe ich aber noch so Sachen wie The Cure oder Deftones gehört, bei denen mir die Stimmung gefallen hat, die diese Songs transportiert haben.

Als ich dann nach einem Jahr wieder nach Deutschland zurückkam, nach Hameln, habe ich dort versucht weiterzumachen, was sich aber als gar nicht so einfach herausstellte. Da war dann keiner so richtig da, der verstanden hat, was ich machen wollte. Aber das Musikmachen war nicht die konstante Leidenschaft, das wäre jetzt zuviel. Eigentlich sah ich mich lange Zeit eher als Musiknerd, als Fan des Ganzen.

Aber da muss ja noch mehr da sein bei dir?

Ja, sicher. Diese jugendliche Lust, auf die Bühne zu gehen, so etwas verspürt man ja auch in sich, wenn man ehrlich zu sich selbst ist. Aber auch da schon das Verlangen, etwas Tolles, Großes zu machen. Dieses Verlangen wurde irgendwann bei mir geweckt und wurde dann auch sehr stark. Aber wann das war, kann ich dir gar nicht sagen.

Kannst du prägende Hörerlebnisse nennen, wenn du dich eben schon als Musiknerd bezeichnet hast?

The Fall, Glenn Branca, Rhys Chatham, Scott Walker, Brian Eno, Fennesz, Silver Apples, Mayo Thompson, Velvet Underground, Talk Talk, Boredoms, Momus, Godspeed You Black Emperor auf jeden Fall. Darauf komme ich immer wieder zurück. Dann kam irgendwann Krautrock für mich, Faust, Neu!, Can, Harmonia, La Düsseldorf, diese Geschichte. Logischerweise dann auch die Punk und Post-Punk-Sache, Wire, Gang of Four, This Heat und P.I.L und so. Grunge nie so wirklich, auch wenn ich das natürlich mitbekommen habe, da hat mir aber schon immer der Zugang gefehlt. Ich konnte aber auch immer was mit der Wucht von Led Zeppelin anfangen. Und die Monks! Aktuellere Bands wären Liars, Stars of the Lid, The Books, Animal Collective, Black Dice, Deerhunter, Health, Lightning Bolt, Manitoba oder auch sowas wie Apex Twin, Mouse on Mars, Four Tet, Burial, Shed, Snoleoparden, DJ Koze, Clark, usw.

Setzt du dich dann auch manchmal hin und versuchst diese Sachen auseinander zu nehmen? Das zu analysieren, was dich daran so interessiert? Das Geheimnis eines guten Songs zu entschlüsseln?

Nee, sowas mache ich eigentlich nicht. Was ich schon manchmal gemacht habe, ist Lieder nachzuspielen. Und was ich in letzter Zeit auch mal gemacht habe, ist mehr auf die Struktur der Songs zu achten, die bei mir hängen geblieben sind. Aber das kann man jetzt nicht wirklich auseinandernehmen nennen. Jetzt gar nicht mal unbedingt, weil ich denke, damit etwas kaputt zu machen, ich hab das einfach nicht in Betracht gezogen.

0082 Kopie

Wir waren eben noch dabei stehen geblieben, von deiner Erfahrung in den USA zu reden, erzähl doch noch ein bisschen davon.

Was, glaube ich, wichtig für mich war und was auch toll war: dass mich dort absolut niemand kannte. Ich war ein vollkommener Niemand in den Staaten. Man kann jemand komplett Neues sein, jemand, der man sein möchte.

Das ist doch auch der Traum von vielen, oder? Nach Berlin zu kommen und jemand ganz Neues sein, sich selbst neu zu erfinden. Diese Erfahrung, jemand Neues zu sein, keine Erwartungen erfüllen zu müssen, ist doch eine extrem belebende Erfahrung. Es ist ja so, wie es bei Proust steht: Der Mensch als soziale Person ist immer Konstrukt der anderen.

Ja, ich habe schon gemerkt, dass mir das sehr gut getan hat. Irgendwann war man da der crazy german guy, und in anderen Kreisen eines der alternative kids. In der dortigen Schule gab’s eine Lehrerin, die eine Unterrichtsstunde nur mir zuliebe gemacht hat. „Nur dem Alex gewidmet“. Das war so eine Phase, in der ich ungemein glücklich war, einfach da zu sein, zu spüren, wie ich mich entwickle. Davor war ich eigentlich ein Heimwehkandidat, aber das gab es dann so gar nicht mehr. Ich glaube, heute kann ich schon sagen, dass diese Erfahrung mich geprägt hat, obwohl man bei sowas sicherlich vorsichtiger sein muss. Da sind so viele unbekannte Variablen, bei denen am Ende so etwas wie ein „Charakter“ herauskommt.

Deine Musik hat ja auch viel mit Selbstüberwindung zu tun, also damit, aus den Ruinen der Gewohnheiten, wie Cocteau sagt, auszubrechen, alles, was einen hindert und hemmt, in einem Performance-Akt zu überwinden, sozusagen zu transzendieren.

Stimmt, die Musik, das Programm, das ich live zusammenstelle, ist in gewisser Weise darauf angelegt, dass ich mich selbst überwinde. Und dann stellen sich bei mir solche Zustände ein, die mich, wie soll ich sagen, zufriedener zurücklassen. Vorbild waren da für mich Konzerterfahrungen, die ich mit einem Grinsen auf dem Gesicht verlassen habe, die mich glücklich gemacht haben. Ich will, dass sich meine Erfahrung, die ich auf der Bühne mache, auf das Publikum überträgt. Mentale Blockaden will ich wegreißen. Im besten Falle geht man dann verändert aus einem Konzert heraus.

Erinnerst du dich gerne an deine Kindheit zurück und wie kann man sich dich als Kind vorstellen?

Ich hatte eine wunderschöne Kindheit, ja wirklich, ich erinnere mich auch gerne daran zurück, ohne das Ganze an irgendwelchen bestimmten Daten festzumachen. Ich war viel draußen unterwegs, Rollenspiele gemacht, so diese Geschichte. Ich habe sowieso, was ja eigentlich klar ist, viel gespielt, am Tresen unseres Restaurants, dem Jägerhof, habe ich immer gezeichnet und gleichzeitig mit meinen Action-Figuren gespielt, He-Man, Mask. Wenn ich Filme geschaut habe, habe ich oft draußen nach Schauplätzen gesucht, wo so etwas stattfinden könnte, und wo dann in meiner Phantasie auch immer jemand um die Ecke kam und etwas passiert ist.

Kann man sagen, dass du dir diese eigene Welt bis heute bewahrt hast?

Ich war auf jeden Fall ein Spätzünder, habe diese Sache lange betrieben. Aber ich kann mich noch daran erinnern, dass ich irgendwann einfach mit diesen Spielereien aufgehört habe, und es dann später nochmal probiert habe, wieder damit anzufangen. Ging aber nicht mehr. Man kann aber sagen, dass die Erinnerungen auf jeden Fall ein großer Fundus für das sind, was ich heute mache. Meistens wird die Erinnerung ja durch irgendetwas getriggert, ein Licht, ein Geruch, und dann ist alles wieder da. Da freue ich mich immer, wenn so etwas passiert, wenn man Stimmungen oder Gefühle wiederfühlen kann. Das ist natürlich nicht nur an die Kindheit gebunden. Ich bin da auch oft melancholisch, wenn ich in der Stadt wieder an einen Platz komme, an dem ich mal verliebt gesessen habe, fühle mich aber gleichzeitig sehr lebendig.

Hast du das Gefühl, dass du solche Momente andern mitteilen kannst, und hast du überhaupt den Anspruch, so etwas auszudrücken?

Da bin ich eher skeptisch. Ich versuche das eigentlich nicht, eine persönliche Stimmung in einem Lied auszudrücken. Welche Bedeutung ein Song für den Hörer gewinnt, kann man, denke ich, erstaunlich wenig beeinflussen. Ich glaube schon, dass die meisten Love-Songs aus solchen Momenten entstehen, wobei das, was da ausgedrückt wird, für den Hörer natürlich eine ganz andere Bedeutung annimmt. Es geht darum, etwas möglichst Universelles zu sagen, zu dem jeder einen Zugang finden kann.

Sind dann die Songs die besten, die so universell und geheimnisvoll sind, weil man alles in sie hineinprojizieren kann?

Was mir dazu einfällt, ist, dass Songs selbst zur persönlichen Erinnerungen werden können, die dann wie ein Geruch funktionieren, und beim Hören dann meist eher das ausgelöst wird, was man persönlich mit ihnen verbindet.

Man eignet sich den Song dann an?

Klar, weil sie dafür ja nicht gedacht waren. Wenn ich zum Beispiel „Wonderful Life“ von Black höre, dann finde ich mich oft in all den Zeiten wieder, in denen ich diesen Song gehört habe.

Geht dir das heute verloren, weil du soviel durcheinander hörst?

Nein, eigentlich nicht. Ich versuche mir das zu bewahren, und wenn ich dann manchmal den Computer nach Songs durchsuche, merke ich auch, dass das funktioniert. Aber um nochmal darauf zurückzukommen: Trotzdem bin ich kein Fan von postmoderner Offenheit. Ich finde, manchmal braucht man auch noch klare Botschaften. Bei Ton Steine Scherben oder bei den Sex Pistols ist die Aussage doch klar, denke ich, und das finde ich auch gut. Statements finde ich schon gut. Gerade heutzutage finde ich eine Positionierung wieder interessant.

Findest du nicht, dass die Sachen, die man nicht versteht, also Geheimnisse, interessanter sind?

Ich verstehe den Reiz daran schon – wenn man sagt, da ist etwas in mir, das will ausgedrückt werden, auch wenn ich gar nicht weiß, was es ist. Scott Walkers Tilt habe ich beim ersten Mal auch nicht verstanden, aber trotzdem fand ich das reizvoll, das hat mich kolossal interessiert oder umgehauen wegen der Neuheit des Ausdrucks. Das ist für mich auch schon wieder ein Statement.

Überspitzt gesagt, würdest du dann dem Unbewussten, das irgendwie ausgedrückt werden will, den Ausdruck vorziehen, der ein durchdachtes Konzept hat?

Ich finde das mittlerweile eigentlich recht langweilig, keine Aussage über sein eigenes Werk treffen zu wollen. Womit ich jetzt die Technik, das Unbewusste sprechen zu lassen, im automatischen Schreiben, nicht ausschließen will. Das Ganze sollte aber nicht erzwungen werden, sondern sich natürlich ergeben.

Aber du arbeitest doch sehr intuitiv?

Das auf jeden Fall.

Ist Intuition etwas, das man wieder lernen muss?

Ich weiß gar nicht, ob man das verlernen kann. Mit der Intuition geht ja eine gewisse Geisteshaltung einher, also eine nicht intellektuelle Arbeitsweise. Es muss immer Sinn und Unsinn, eine gewisse Art von Rahmen, dann wieder keinen Rahmen geben. Das Intuitive verbinde ich mit einer Art von Ruhe, es hat für mich etwas Meditatives. Aber aus der Ruhe muss es wieder nach oben gehen, auf die Ruhe folgt immer eine große Aktivität bei mir. Abwechslung ist ja alles.

Also glaubst du nicht an die buddhistische Ausgeglichenheit?

Das Versenken im Nirwana hat für mich einen zu sehr passiven Aspekt. Da fehlt mir der aktive Teil. Für mich gilt eher: vollkommenes zur Ruhe kommen, um danach die Aufmerksamkeit sprechen zu lassen. Das ist auch ein Aspekt von solchen Meditationsmethoden, der dann bei solchen Leuten wie Heidegger oder Krishnamurti mitspielt. Ich bin eher für die Schulen, deren Lehre lautet: viel mehr machen, überanstrengen, ans Limit gehen. Nietzsche, Max Stirner, Gurdijeff, Ouspensky, solche Leute. Gurdijeff hat in Paris mit seinen Jüngern überanstrengende Versuche gemacht, um die Vielheit der Person und den Wesenskern offen zu legen, um den Roboter in sich zu überwinden. Das habe ich so für mich entdeckt. Dass es im Endeffekt auf die Psyche, auf das Selbstbewusstsein des Menschen ankommt, von wo alles Weitere seinen Lauf nimmt. Dass es da viel zu entdecken gibt.

0047 1 Kopie

Carl Gustav Jung hast du ja dein PDF der Freiheit gewidmet, wie kamst du zu ihm?

Ach ja, mit Jung hatte ich auch eine ganz wunderbare Zeit. Die Bücher über Symbole und die Archetypen habe ich damals gelesen. Das hat mich von Anfang an angesprungen und interessiert. Für mich persönlich empfinde ich beim Lesen immer, dass sich mein Möglichkeitsrahmen ungemein erweitert. Dadurch, dass da einer war, der die Angelegenheiten der Psyche so formulieren konnte, kann man diese Dinge erst an sich wiedererkennen, an sich selbst erforschen. Das hat ja auch viel mit Freiheit zu tun.

Während Freud ja mit seiner Triebgesteuertheit den Menschen als zwanghaft dargestellt hat, ist Jungs Menschenbild viel optimistischer und betont, dass der Mensch sich selbst verwirklichen kann. Build yourself als Methode sozusagen.

Stimmt. Man sucht nach solchen Leuten, die zu einem sprechen, die einen supporten. Mich haben dann auch die Forschungen der sogenannten humanistischen Psychologie interessiert, Abraham Maslow zum Beispiel, der sich im Gegensatz zu Freud mit den Menschen beschäftigt hat, die glücklich waren, denen es gut ging. Das hat mich direkt berührt und dann schaut man, was solche Leute sonst noch gefunden haben. Das human potential movement, sowas finde ich spannend. Das sind für mich prägende Gebiete.

Um noch bei dem menschlichen Potenzial und dem Aspekt der Befreiung zu bleiben, das ist ja auch eine Art Katharsis, die du bei deiner Performance versuchst, für dich selbst und auch für deine Hörer?

Man braucht schon eine große Konzentration, eine hohe Aufmerksamkeit, um verändert aus einem Abend herauszugehen. Es hat auch viel mit Performance zu tun. Wenn ich mir meine Lieder auf Aufnahmen anhöre, dann merke ich, dass dies dort nicht so ganz zu transportieren ist. Man muss selbst vor Ort sein, damit es ein Erlebnis wird.

Hast du manchmal sowas wie Einflussangst? Als jemand, der überall mal reinhört, alles aufnehmen möchte?

Nee, eigentlich nicht.

Gibt es denn einen Punkt, an dem du sagen musst: Stopp, ich mache jetzt was Eigenes?

Das sagt man ja nicht, das macht man einfach.

Das Gefühl unterzugehen in der Vielheit der Sachen, die es schon gibt, kennst du nicht? Obwohl sich deine Songs so anhören, als seist du der erste Mensch, der Musik macht, hast du diese naive Weltsicht auf das Musikmachen nicht, dafür hast du dich viel zu viel damit beschäftigt.

Ich kann natürlich nicht hingehen und irgendjemanden kopieren. Das ist nicht mein Anspruch. Man muss seinen eigenen Beitrag leisten, in seiner eigenen Sprache. Dazu muss man sich erstmal kennenlernen. Ich hatte natürlich Phasen, in denen mich gewisse Einflüsse blockiert haben, und es wäre für mich auch interessant gewesen, unbefangener ans Komponieren heranzugehen. Aber das hatte ich nunmal nicht. Jetzt, nachdem ich schon Einiges gemacht habe, kann ich erst feststellen, wohin die Reise bei mir ging, also welche Tendenzen ich in meiner Musik erkenne, von welcher Basis ich ausgehe, von der aus ich arbeiten kann. Und ich kann feststellen, welches Material es wert ist, mit Leuten geteilt zu werden. Ich empfinde meine Entwicklung als total offensichtlich, dap-dap-dap. Ich hab keine Angst, weil ich doch schon genug Selbstvertrauen habe und von mir überzeugt bin. Ohne dieses Grundvertrauen geht es nicht. Das gehört ja auch dazu, ohne ein bisschen Größenwahnsinn kann man nichts erschaffen.

Vielleicht muss jeder Mensch diese Erfahrung im Leben einmal machen, nämlich, dass seine Stimme auch etwas zählt.

Ja, dazu fällt mir ein: Ich hatte mal mit 17, als ich gerade zurück aus den USA war, Michael Rother, dem Gitarristen von Neu! geschrieben, ob ich nicht zum Gitarrenunterricht zu ihm kommen könnte. Er hat damals verneint und mir auch mit einem Brief geantwortet und geschrieben: Nein, Alexander, du musst da deinen eigenen Weg finden.

Links: Homepage

Max Link lebt als Autor in Berlin Neukölln. Er schreibt außerdem für Spex und den Freitag.

(Fotos: Johann Clausen)