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Young-Echo Nexus

Young Echo – Nexus (Ramp Recordings 2013)

Der Dub: Erschaffen aus den Fragmenten des Raggae und der Kultur der sound systems der großen karibischen Community, die hier eine neue Heimat gefunden hat und die diese Stadt prägt wie sonst kaum eine andere auf den britischen Inseln. The Wild Bunch: Tricky, Massive Attack, Unfinished Sympathy. Portishead. Glory Box. Der Geburtsort einer der wirkmächtigsten und folgenreichsten Genres der elektronischen Musik: Trip Hop. Und später, nach der Jahrtausendwende, als die letzten Nachwehen dieser schleppenden, rauen, sehnsuchtsvollen Beats verklungen waren, eine Neugeburt, wieder im Geiste der westindischen Tradition: the second city of dubstep.

Bristol, Südwestengland. Wohl nicht zuletzt ob ihrer fehlenden Größe konnten sich hier stets stärker als in der nur wenige Autostunden östlich gelegenen Hauptstadt des Empire musikalisch eng verwobene Szenen festsetzen und ausbreiten und dabei Stile prägen, die es auf ihrem Zenit noch immer vermochten, den Geschmack interessierter Kreise auf dem gesamten Kontinent zu bestimmen. Derzeit mögen die Hypes eine kleine Pause einlegen, aber eines bleibt gewiss für jene Musiker, die heute in Bristol leben und arbeiten: In kaum einer anderen Stadt bewegt man sich von vornherein in einem so stark aufgeladenen, ja metaphysisch überhöhten Spannungsfeld kanonisierter musikalischer Vergangenheit.

In eben dieses Spinnennetz des fast übermächtigen Gewesenen hinein hat sich vor wenigen Jahren Young Echo gegründet, ein Kollektiv von inzwischen neun jungen Künstlern, die in unterschiedlichen Zusammensetzungen schon seit längerem im Verbund Musik machen: Seb Gainsborough alias Baba Yaga alias REI alias Vessel, der mit letzterem Projekt so etwas wie das erste Aushängeschild der Gruppierung geworden ist, vor allem seit Veröffentlichung seines Debüt-Albums „Order of Noise“ auf Tri Angle Records im vergangenen Jahr. Joseph McGann, der in erster Linie unter dem Namen Kahn reüssiert, als leidenschaftlicher Verfechter fast traditioneller Interpretationen von Dubstep und Grime, und als solcher noch am engsten verwoben ist mit den Clubs und sound systems von Bristol. Kahns selbstbetitelte, im Frühjahr auf Black Box erschienene EP gehört zweifellos zu den überzeugendsten Zeugnissen der ungebrochenen Vitalität des UK Underground im Jahr 2013. Dann wäre da Amos Childs, der für das Duo Jabu die Beats produziert und sich zusammen mit Cris Ebdon als Zhou zeitgemäßem Dubstep widmet, wenn letzterer nicht als Ishan Sound solo auf ähnlichem Territorium wirkt. Jabu wird komplettiert durch Alex Rendall, dessen Vocals inzwischen wohl das stärkste Wiedererkennungsmerkmal des Kollektivs geworden sind. Schließlich Sam Kidel, dessen dem Noise verpflichtete, unzugängliche Soundskulpturen wie die Musik Vessels jene äußersten, schlecht beleuchteten Ränder des Techno ausarbeiten. Komplettiert wird die Gruppe durch Sam Barrett alias Neek sowie MC Jack Richardson und Komponist Paul Zaba, die aber nicht zum Kern zu rechnen sind und auch nicht an der hier besprochenen LP mitgewirkt haben.

Young Echo selbst, ursprünglich erschaffen als Name für eine noch immer bestehende, halbwegs regelmäßig produzierte Internet-Radiosendung, die die Freunde gemeinsam bestreiten, fungiert im Grunde nur als der nicht weiter determinierende Kokon für die ansonsten durchaus weit voneinander entfernten Spielarten elektronischer Musik der einzelnen Mitglieder. Und erst Nexus führt dieses zerstreute, diversifizierte Werk der sechs erstmals auf einer LP zusammen. Was allerdings keine Kohärenz zur Folge hat: Die 13 Songs sind genau so verschieden, wie die Hintergründe und Ansätze der einzelnen Künstler es vermuten lassen würden. Wenn überhaupt, so ist als kleinster gemeinsamer Nenner stets der Dub zu verorten, als beinahe natürliches Habitat einer jeden elektronischen Musik, die ihre Wurzeln in Bristol hat. Ansonsten aber fällt es schwer, auf Anhieb signifikante Gemeinsamkeiten zu finden zwischen einem stark fokussierten Song wie „Blood Sugar“, der irgendwo an der Schnittstelle von Dubstep und „Pop“ einzuordnen wäre, und experimentellen, improvisierten Introspektionen wie dem Opener „Radial Sheaves“ oder dem letzten Stück „Ephemeral, Sometimes / Eternities, Never“, die im bewusst sperrigen Verbund das Album umklammern.

Dass die Musiker dennoch darauf verzichtet haben, einzeln in der Tracklist aufgeführt zu werden, ist durchaus als Statement zu verstehen. Nexus – der Titel selbst verdeutlicht, dass hier die Verbindungen, die Verknüpfungen der sonst voneinander isolierten Werke zutage treten sollen. Es ist ein Album von Young Echo. Ob es gelingt, diese Botschaft tatsächlich auch musikalisch zu transportieren, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Sich völlig von der jeweils eigenen musikalischen Identität zu verabschieden, so weit wollten die sechs Musiker nämlich dann doch nicht gehen; und so ist auf dem Backcover der LP zumindest im Kleingedruckten fein säuberlich aufgelistet, wer für welchen der 13 Tracks tatsächlich als Autor verantwortlich ist. Wenn echte Synergie doch einmal klappt, dann am ehesten mit dem Titelstück, das relativ in der Mitte des Albums zu finden ist und nicht nur deshalb wie der Kristallisationspunkt von Nexus wirkt. Dieses Stück wird als einziges Killing Sound zugeschrieben, einem amorphen Projekt, das von Childs, Gainsborough, Kidel und Rendall ins Leben gerufen wurde, um die gemeinsamen musikalischen Schnittpunkte auszuloten. Hier allein scheint durch, wie Young Echo tatsächlich klingen könnte – und vielleicht in Zukunft ja auch klingen soll. Dass ein tatsächliches künstlerisches Zusammenspiel möglich ist, beweist ein für den britischen Wire produziertes, kürzlich ins Netz gestelltes Video, das die Mitglieder bei einer improvisierten Live-Session zeigt (siehe oben). Umgeben von einer Aura offensiv zur Schau gestellter Ernsthaftigkeit entsteht eine Ahnung von der kumulativen kreativen Energie, die die Künstler als Kollektiv, als Young Echo zu entfesseln imstande sind.

So aber dient Nexus zunächst einmal nur als Werk- und Rückschau, vielleicht als eine Art Zwischenbilanz, und so sollte die Platte auch gehört und betrachtet werden. Wenige der Stücke sind neu. So geistert das betörend sehnsuchtsvolle, durchaus wenig subtil originären Trip Hop reminiszierende „My Child, My Chain“ schon seit mindestens zwei Jahren als Youtube-Clip durchs Netz, aufgenommen von Gainsborough zusammen mit der befreundeten Künstlerin Lily Fannon – die schon auf „Order of Noise“ als gelegentliche Vokalistin diente und auch auf Nexus wiederholt mitwirkt. Die drei Tracks von Jabu, auf denen Rendall seine charakteristischen Stream of Consciousness-Raps ausstellt, fanden sich schon im letzten Jahr auf einem streng limitierten Live-Tape, das vom winzigen Bristoler Label No Corner herausgebracht worden war. Und auch wenn es diese drei Stücke sind, die neben Nexus am meisten herausstechen und der LP so etwas wie einen inneren Leitfaden geben, verlieren sie hier doch etwas von der atemraubenden, fast bedrohlichen Wucht, das die Kassette zu einer der wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres 2012 gemacht hatte.

Am Ende ist Nexus zu allererst notwendig und nützlich als die längst überfällige Einführung in das Schaffen eines der interessantesten, einer wirklichen Avantgarde verpflichteten musikalischen Kollektive der Gegenwart. Ob die LP dagegen auch als Album im eigentlichen Sinne funktioniert, das möge jeder für sich entscheiden. Eine der essentiellsten Veröffentlichungen dieses Jahres ist Nexus so oder so ohne jeden Zweifel.

Henning Lahmann ist der Kopf hinter No Fear Of Pop und schreibt auch sonst hier und da über Musik

(Artwork: Ramp Recordings)