Gespräche

SEBASTIAN COWAN hat eine simple Lebensphilosophie: „Stehe früh auf und nutze den Tag”. Sein Erfolg gibt ihm Recht. Gerade mal 25 Jahre alt ist der gelernte Toningenieur aus Vancouver Chef seines eigenen Labels ARBUTUS RECORDS und Manager von Kritikerliebling GRIMES. Davor war er Betreiber einer der wichtigsten Live-Venues in Montreal, dem LAB SYNTHÈSE, das er im Alter von 21 Jahren mit ein paar Freunden eröffnete. Im SKYPE-Gespräch mit CARTOUCHE sprach SEBASTIAN über den Konzertraum, sein Label ARBUTUS RECORDS und die Musikszene Montreals. Auch verriet er, warum er so gerne früh aufsteht.

Guten Morgen SEBASTIAN, wie geht es dir?

SEBASTIAN: Ganz gut soweit. Ich habe schon einiges erledigt heute, ich war bei der Bank und auf der Post und habe gerade ein zweites Mal gefrühstückt. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch im Büro von ARBUTUS RECORDS.

Du stehst also gerne früh auf? 

Richtig, gewöhnlich schon um sieben! Ich liebe den Morgen, ich kann dann besser arbeiten. Abends gehe ich zeitig ins Bett.

Das klingt sehr vernünftig für jemanden der 25 Jahre alt ist. In Berlin ist man in diesem Alter einen ganz anderen Rhythmus gewöhnt, hier beginnt der Tag in der Regel etwas später.

In Montreal ist das nicht anders. Die meisten meiner Freunde gehen spät ins Bett und schlafen dann aus. Das ist einfach nicht mein Ding. Ich nutze lieber den Tag.

Mit Erfolg. Du warst Betreiber einer erfolgreichen Musikvenue und hast jetzt dein eigenes Label. Wann wurde deine Leidenschaft für Musik geweckt?

In der Highschool. Einige meiner Freunde waren richtige Musiknerds und steckten mich mit ihrer Begeisterung an. Ich hörte alles, was ich kriegen konnte. Kurz darauf fing ich an, in mehreren Bands Schlagzeug zu spielen. Als ich dann später in London studierte, machte ich elektronische Musik. Die Alben, die WARP RECORDS in den 90ern herausgebracht hat, hörte ich damals rauf und runter.

Wie kamst du auf die Idee, eine eigene Venue in Montreal aufzumachen?

Nach meinem Studienabschluss in London wollte ich mein eigenes Ding durchziehen. Die Idee für die Venue stand bei mir uns meinen Freunden schon länger im Raum. Die Frage war nur wo. Wir haben uns für Montreal entschieden, weil die Stadt der perfekte Ort für Kunst und Musik ist. Das Leben hier ist so billig, dass du auch ohne Job gut über die Runden kommst. Acht Monate nachdem wir das LAB SYNTHÈSE aufgemacht hatten, beging einer von uns, mein bester Freund DAVID, Selbstmord. Das war ein großer Wendepunkt in meinem Leben. Ich verließ Montreal und ging zurück nach Vancouver. Die anderen beiden taten es mir gleich.

Und was wurde aus dem LAB SYNTHÈSE?

Das hatte ich eigentlich schon abgehakt. Ich wollte nicht mehr zurück nach Montreal. Doch dann rief mich eines Tages mein Bruder ALEX an und sagte mir, dass in dem Projekt noch eine Menge leben stecke. ALEX war kurz zuvor in das Lagerhaus gezogen, in dem sich die Venue befand und in dem damals alle wohnten. Seine Worte hatten mich überzeugt. Ich sagte mir, es ist besser etwas zu tun, als nur rumzuhängen. Nach meiner Rückkehr hatte ich den Plan aus dem LAB SYNTHÈSE ein großes Gemeinschaftsprojekt zu machen. Auf jedem Konzert sollte mindestens ein Freund von mir spielen. In dem Zeitraum wuchs mein Freundeskreis rasant.

Warum hat du ARBUTUS RECORDS gegründet?

Bei LAB SYNTHÈSE ging es nach DAVIDS Tod darum, Freunden zu helfen und ihnen eine Plattform zu bieten. Da ich sie auch außerhalb des LAB SYNTHÈSE unterstützen wollte, beschloss ich ein Label aufzumachen. Mit der Zeit wurde das Label immer wichtiger für mich, weswegen ich mich dazu entschied, die Venue dicht zu machen. Diese Entscheidung war wie so viele andere zuvor rein intuitiv. Ich denke über solche Dinge nicht lange nach, es passiert einfach.

Wie laufen die Geschäfte bei ARBUTUS RECORDS?

Ich kann mich nicht beklagen, wir wachsen stetig! Zwar wirft das Label noch kein Geld ab, aber ich bin sicher, das ist nur eine Frage der Zeit.

Wovon lebst du dann im Moment?

Ich verdiene mein Geld als Tontechniker in Clubs. Aber ich glaube, ich werde das bald sein lassen. Auch wenn es nicht sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, ist es sehr anstrengend, zusätzlich zu meinem Job bei ARBUTUS RECORDS die ganze Nacht zu arbeiten. Ich brauche Zeit, um mich auszuruhen.

Ich finde es sehr mutig gerade jetzt ein Label zu gründen. Schließlich stecken Musiklabels seit Anbruch der digitalen Revolution in ihrer größten Krise.

Labels haben in der Tat an Bedeutung verloren, weil man sich heute um vieles selbst kümmern kann. Man kann seine Alben zuhause am Computer aufnehmen und anschließend über das Internet vertreiben. Einen PR-Agenten und einen Booker anzuheuern stellt ebenfalls kein großes Problem dar. Das war vorher viel schwieriger. Dennoch können Labels sehr nützlich sein, besonders für kleinere Bands sind sie noch immer eine gute Option.

Inwiefern?

Labels haben in der Regel gute Beziehungen, weil sie schon lange im Business sind. Versuch mal als unbekannter Künstler einen Vertrag mit einem Vertrieb zu den selben Konditionen auszuhandeln, wie WARNER BROTHERS RECORDS sie bekommt – das ist unmöglich!

Dennoch scheinen die Tage klassischer Labels gezählt zu sein. Was macht ihr besser?

Wir verlegen nicht nur Musik, sondern kümmern uns auch ums Management. Das hat klare Vorteile: Da du dem einzelnen Künstler auf allen Ebenen zur Seite stehst, entwickelt sich eine viel engere Beziehung. Dadurch weißt du immer, was der jeweilige Künstler braucht.

Anders als andere Labels verkauft ihre eure Musik nicht nur, sondern bietet an, sie gegen eine Spende oder kostenlos herunterzuladen. Warum?

Das ist einfach: Was einem Künstler am Anfang seiner Karriere am meisten hilft, ist, dass so viele Menschen wie möglich seine Musik hören. Wenn du deine Musik verschenkst, erreichst du selbst diejenigen, die sich gar nicht für die Musik interessieren. Mit dem Debütalbum Geidi Primes von GRIMES sind wir so verfahren und hatten damit großem Erfolg.

Und wie läuft es mit den Spenden?

Auch sehr gut. Jeden Tag spenden im Schnitt zwanzig Leute Geld. Zwar verdienen wir damit nicht so viel wie durch Verkäufe, dennoch sind die Spenden eine gute zusätzliche Einnahmequelle.

Wäre das also ein Modell für die Zukunft?

Die Zukunft liegt eindeutig im Streaming, da Hörer und Künstler davon gleichermaßen profitieren. Die einen können sich Musik kostenlos anhören, die anderen bekommen für jeden gehörten Song einen festen Betrag ausgezahlt.

Seit neuestem kann man einem Sampler mit verschiedenen Bands aus Montreal kostenlos auf der ARBUTUS-Internetseite herunterladen. Sind all die Bands auf dem Sampler ebenfalls Freunde von dir?

Ja, das sind sie. Alle Bands kommen aus dem Umfeld des LAB SYNTHÈSE. Du musst wissen, dass die Bands auch untereinander gut befreundet sind. Viele der Musiker spielen in der Band des anderen. Das liegt zum einen daran, dass wir alle Englisch sprechen und somit eine Minderheit in Montreal sind. Zum anderen leben wir alle im selben Viertel, weshalb wir uns oft sehen. Ich liebe diesen Vibe.

Das klingt in der Tat verlockend. Welche Rolle spielte das Lab Synthèse für die Szene?

Eine sehr große: Die meisten Bands haben im LAB SYNTHÈSE ihre ersten Live-Erfahrungen gesammelt. Andere wiederum waren so begeistert von der Atmosphäre, dass sie ihre eigene Band gründeten. So auch GRIMES. Bevor CLAIRE BOUCHER anfing im LAB SYNTHÈSE abzuhängen, hatte sie hauptsächlich gemalt. Eines Tages zeigte sie meiner damaligen Freundin einen Song, den sie aufgenommen hatte. Ich war so beeindruckt von ihrer Stimme, dass ich sie unbedingt auf ARBUTUS RECORDS rausbringen wollte. Sie willigte ein und so nahmen wir kurze Zeit später ihr Debütalbum Geidi Primes auf.

Wer hat die Nachfolge des LAB SYNTHÈSE angetreten?

Es gibt viele gute Konzerträume in der Stadt. Einer davon ist die Loft-Venue LA BRIQUE. Dort gibt es nicht nur eine Bühne, sondern auch Proberäume und ein Studio. Unser Büro ist dort ebenfalls unterge- bracht. Das Gebäude, in dem sich LA BRIQUE befindet, ist eine ehemalige Textilfabrik, die in den 60ern geschlossen wurde und in den 90ern von Künstler angemietet wurde. Das kennst du sicher auch aus Berlin!?

Richtig, die Stadt ist noch immer ein großer Abenteuerspielplatz. Hast du schon neue Pläne geschmiedet?

Nicht wirklich. Ich mache erstmal mit ARBUTUS RECORDS weiter, schließlich läuft es gerade sehr gut für uns!

Links: ARBUTUS RECORDS / MONTREAL COMPILATION VOL I / VOL II 

Foto: MARILIS CARDINAL

 

Empfehlung

„She’s like Britney at this point. I’m just a stooge”. Besser als JASPER BAYDALA, Mitarbeiter des Labels ARBUTUS RECORDS, hätte man den Hype um CLAIRE BOUCHER aka GRIMES nicht auf den Punkt bringen können. Seitdem die Kanadierin im März ihr drittes Album Visions auf dem renommierten britischen Label 4AD veröffentlicht hat, reißen sich alle um sie. An BOUCHER heranzukommen scheint momentan ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, sodass selbst gute Freunde wie BAYDALA da nicht weiterhelfen können.

Doch ist der Rummel um die Musikerin berechtigt? Um es vorweg zu nehmen: Ja, das ist er in der Tat! CLAIRE BOUCHER hat mit Visions eines der wegweisendsten Alben der vergangenen Jahre aufgenommen. Die Musikerin aus Montreal kommt aus dem Umfeld des Labels ARBUTUS RECORDS und des bereits geschlossenen Musiklofts LAB SYNTHÈSE. Auf ARBUTUS RECORDS erschienen ihre ersten Alben Geidi Primes und Halfaxa, im LAB SYNTHÈSE spielte sie ihre ersten Shows, der Gründer beider Institutionen, SEBASTIAN COWAN, ist ihr Manager. Eigentlich war sie zum Studium nach Montreal gekommen, doch als GRIMES immer mehr Resonanz bekam, schwänzte sie die Kurse, bis sie irgendwann von der Uni flog.

BOUCHERS Musik ist glücklicherweise weit weniger klischeebehaftet. Ganz im Gegenteil ist das Besondere an der Kanadierin, dass ihr Sound schwer einzuordnen ist. Es wirkt genialistisch, wie sie 90’s-Ravesynthies mit asiatischen Harmonien kombiniert. Wer nun aber denkt, die Musikerin mache bizarre Weltmusik, der irrt. BOUCHERS Songs strahlen eine hypnotisierende Düsternis aus, die Witchhouse und Goth-Hörer_innen nicht unbekannt sein dürfte. Sie lässt die meisten Witchhouse-Künstler_innen jedoch links liegen, da sie es im Gegensatz zu ihnen schafft, richtige Songs zu schreiben.

BOUCHER selbst bezeichnet ihre Musik als „Post Internet”. Die treffendere Bezeichnung wäre „Cybertechno”. GRIMES macht elektronische Musik, die ein verworrenes Dickicht aus verschiedensten Zitaten und Stilen ist. Sie profitiert von den offenen Archiven des Internets, von dem einfachen und schnellen Zugang auf Musikstile aus der ganzen Welt. In dem Moment, in dem man denkt, man habe das System GRIMES durchschaut, wird man von der Sängerin eines besseren belehrt.

Das liegt auch an ihrem ausgefallenen Songwriting. Die Kanadierin hat ein Händchen für die richtigen Melodien. Zuckersüß können diese sein, eingängig sind sie allemal. Doch anstatt simple Popsongs zu komponieren, bastelt BOUCHER lieber komplexe Gebilde. Immer wieder bricht der Beat los, um in der nächsten Sekunde zu stoppen, einem Pianoriff zu weichen oder sich in eine Fläche aufzulösen. Es gibt Momente, da überlappen sich die Tonspuren, ein Durcheinander aus verschiedenen Stimmen entspinnt sich, hier eine ein Technoriff, dort ein Ravebass. Wenig später sind ein Breakbeat und eine Synthiefläche alles, was BOUCHERS Elfenstimme begleitet. Dass ihre Songs in der Regel nur aus einer einzigen Akkordfolge bestehen, fällt da gar nicht weiter auf.

Schon auf ihrem 2010 erschienen Erstlingswerk Geidi Primes reihte sich ein brillianter Song an den anderen. Auf Visions hat sich daran nichts geändert, nur wirken die Lieder auf ihrem neuesten Album wie aus einem Guss und weniger verspielt. Die düster wabernden Techno-Bässe, die reverbüberladenen Synthie-Flächen und BOUCHERS Stimme harmonieren perfekt miteinnander. Auch ist es der Musikerin gelungen, ihren Gesang weiter zu verfeinern, der sich auf Visions von all seinen Facetten zeigt: Mal ist ihre Stimme ein zartes Hauchen, mal ein jammerndes Jaulen, mal ein druckvolles Schreien. Dabei erreicht sie oft Höhen, die man sonst nur aus chinesischen Opern kennt.

Was über all dem schwebt, das ist BOUCHERS Sinn für die richtige Ästhetik. Alles was die kanadische Musikerin macht, hat einen starken Wiedererkennungswert. Das gilt sowohl für ihre Musik als auch für ihre Videos. Während sie sich im Video zu „Crystal Ball” als schwarz gekleidete Waldhexe mit einem turmhohen Hut auf dem Kopf präsentiert, sitzt sie im Clip zu „Oblivion” in der Umkleide-Kabine eines Footballstadions umgeben von durchtrainierten Männerkörpern und hüpft mit einer Gruppe euphorisierter Fans auf der Tribüne.

Es besteht kein Zweifel: CLAIRE BOUCHER hat das Zeug dazu, richtig groß zu werden. Größer noch als BRITNEY SPEARS. Denn was BOUCHER der ehemaligen Ikone unzähliger Teenager voraus hat, sind ihr Charme und ihre Lockerheit. Chapeau Miss BOUCHER!

Links: Arbutus Records / Free Download Geidi Primes & Halfaxa

Editorial

Liebe Leser_innen,

in der Popkultur dreht sich nach wie vor alles um die Vergangenheit. Gerade erst erschienen mit WES ANDERSONS Film Moonrise Kingdom und JAMES FRANCOS Roman Paolo Alto zwei weitere Werke, die sich mit der Kindheit und der Jugend auseinandersetzen. Ähnlich sieht es in der Mode und Musik aus, wo der Einsatz von Pastiche nicht mehr wegzudenken ist. Unermüdlich zitieren Designer_innen wie Musiker_innen aus vergangenen Stildekaden. Da ein Ende dieses Trends nicht abzusehen ist, sollte sich die Popkritik einmal mehr darauf konzentrieren, die einzelnen popkulturellen Produkte zu dechiffrieren und zu kontextualisieren.

Schließlich fragen wir heute viel zu selten, wo ein bestimmtes Zeichen herkommt. Alles wird vollkommen selbstverständlich kopiert und in neue Sinnzusammenhänge gesetzt. Genau um diese Problematik dreht sich der Text “Kollektives Vergessen” unseres Autors GUENTHER LAUSE. In ihm analysiert LAUSE was eintritt, wenn das Zitat von seinem Ursprung getrennt wird: Eine kulturelle Amnesie. Zum Glück gibt es verantwortungsbewusste Blogger wie NATHAN COWEN, der auf seinem Pictureblog HAW-LIN die Bildquellen angibt oder die Plattform TUMBLR, bei der man die Bilder zu ihrer Quelle zurückverfolgen kann. Sie sorgen dafür, dass nicht alle Spuren verwischen im endlosen Datenstrom des World Wide Web.

Der Verlust des Authentischen ist aber nicht das einzige Problem unserer digitalen Gesellschaft. Ein weiteres lässt sich formulieren: Durch die rapide Geschwindigkeit des Netzes hat die Berichterstattung über Popkultur an Tiefe verloren. Beim stetigen Weiterverlinken von Songs und Bildern ist vielen Blogs der Blick für die Personen hinter den einzelnen Werken abhanden gekommen. Wer kennt die Mitglieder seiner Lieblingsbands heute noch beim Namen oder weiß, welches Ziel ein Designer mit seiner Arbeit verfolgt? Ist das überhaupt wichtig? Wir finden ja! Aus diesem Grund finden sich in dieser Ausgabe ein Portrait des Modefotografen LENNART ETSIWAH sowie längere Gespräche mit der One-Man-Show CHRISTOPHER KLINE aka HUSH HUSH und dem Labelchef von ARBUTUS RECORDS, SEBASTIAN COWAN, in denen es um ihre Arbeit, ihr Leben und ihre künstlerische Vision geht.

Den Ansatz hinter die Kulissen zu schauen und sich Zeit zu nehmen für sein Gegenüber, hat ebenfalls die niederländische Fotografin QING QING MAO, die für ihre Buchserie The Leaf City Städte portraitieren will, indem sie mit den Leuten redet, die in ihnen leben und arbeiten. Für uns hat sie eine Auswahl an Fotos zusammengestellt, die sie im Mai für ihr Berlinbuch aufgenommen hat.

In diesem Sinne: Lasst uns für einen kurzen Moment innehalten.

Viel Spaß beim Lesen!

Die Redaktion von CARTOUCHE.