Editorial

Neulich im Nathanja und Heinrich mit den Freund_innen gesessen. Draußen war Sommer, drinnen tranken wir Pastice. Alles hier fühlte sich gut und richtig an.

Es ist eben jenes Gefühl, jene Zelebration des Moments, um die es in Cartouche No. 4 geht. Wir wollen ihn einfangen, den Sound dieser Tage. Und so finden sich auch in diesem Heft wieder Projekte von Menschen, die uns begeistern, indem sie das, was uns umgibt, in ihrer Arbeit reflektieren und somit einen Beitrag zum Hier und Jetzt leisten.

Das erste Gespräch dieser Ausgabe führten wir mit dem Berliner Duo Easter. Die Musik von Stine Omar Midtsæter und Max Boss lässt sich nur schwer in Worte fassen, entfaltet zugleich aber eine einzigartige Atmosphäre. Wir haben die beiden im Wedding getroffen. Die Protagonisten von Gespräch zwei und drei sind Alexander Winkelmann und Yule FM. Beiden ist es auf eigene Weise gelungen, eine aufregende Kunstsprache zu entwerfen. Das großartige Interview mit Alexander Winkelmann führte unser neuer Autor Max Link.

Über die Musik hinaus finden sich in Cartouche No. 4 aufregende Talente aus den Bereichen Fotografie und Design. Da wäre Tonje Thilesen, die eindrucksvolle Fotos von Menschen und Orten macht. Und die Designerin Lina-Marie Koeppen. In der Designstudie „Learn To Unlearn“ geht sie der Frage nach, ob Design den Menschen dabei helfen kann, sich ihrer selbst zu bemächtigen. Ebenfalls begrüßen wollen wir Pen-Club-Mitglied Malte Euler und die Designerin Regina Weber.

Unsere Gastautoren haben weitere wichtige Gegenwarts-Projekte unter die Lupe genommen. Henning Lahmann empfiehlt das erste Album des Avantgarde-Kollektivs Young Echo, Warren O’Neill und Kyle Brayton haben sich mit dem schwedischen Teenage-Rapper Yung Lean befasst, Evelyn Malinowski war auf den Spuren der Grimes-Gang unterwegs, Jamie Jonathan Ball hat in London den Designer Matthew Bromley getroffen und Paul Solbach geht dem Mythos Pop auf den Grund.

Neu in diesem Heft ist der Don’t Panic Berlin Ausgehplan mit fünf Terminen, die ihr auf keinen Fall verpassen solltet. Vielen Dank an dieser Stelle an Indi Davies! Großer Dank gilt ebenfalls Charlotte Thießen und Augusto Lima vom Kassetten-Label Mouca, die für uns ein weiteres mal ein Mixtape mit ihrer Lieblingsmusik zusammengestellt haben.

Und nun: Umarmt mit uns das Jetzt!

Gespräche

Leute, vergesst GRIMES, hier kommt DAN BODAN! Der kanadische Musiker hat alles, was man braucht, um es im Popgeschäft weit zu bringen: Stil, Charme und eine großartige Stimme. Von seinen umwerfenden Liedern ganz zu schweigen: Sein Song „Aaron“ zählt definitiv zu den besten Stücken 2012. Das New Yorker Label DFA scheint von den Qualitäten des in Berlin lebenden Sängers ebenfalls überzeugt zu sein, veröffentlichte es doch Ende 2012 die Tracks „Aaron“ und „DP“ auf Vinyl. Und da DAN BODAN wie kein zweiter ein Kind des Internets ist, führten wir unser Interview per Mail. Dort verriet er, dass er sich gern mal von GRIMES stylen lassen würde und eine Vorliebe für STERNBURG-Bier hat. Doch lest selbst, was uns twink_kid92 auf unsere Fragen schrieb.

DAN, deine Songs „Aaron“ und „DP“ sind vor Kurzem auf dem New-Yorker Label DFA-RECORDS erschienen. Wie ist man dort auf dich aufmerksam geworden?

DAN: Die Leute von DFA kennen mich schon seit zehn Jahren. Damals wollten sie einen Remix veröffentlichen, den ich für meinen Freund SANDRO PERRI gemacht habe. Leider ist da nie etwas draus geworden. Dafür sind wir in Kontakt geblieben. 2012 hat DFA sein Versprechen dann endlich wahr gemacht.

Bist du ein Fan von LCD SOUNDSYSTEM? JAMES MURPHY ist ja einer der Gründer von DFA.

Auf jeden Fall! Während meiner College-Zeit durften MURPHYS Songs auf keiner guten Party fehlen.

Von wem handelt dein Song „Aaron“?

AARON gibt es nicht wirklich. Er ist eine fiktive Figur, die von meinen Freunden und mir inspiriert ist. Im Grunde könnte AARON jeder sein, der 27 Jahre alt ist und noch immer keinen richtigen Job hat.

Woher kommst du?

Geboren wurde ich in der Prärie Kanadas, in Alberta. Aufgewachsen bin ich aber in Nova Scotia und Montreal.

Warum bist du nach Berlin gekommen?

Ich brauchte einfach etwas Neues. Vor Berlin habe ich in Prag Kunst studiert. Da ich keine Lust mehr auf mein Studium hatte, packte ich meine Sachen und nahm den nächsten Zug nach Deutschland. Mein erstes Zimmer war eine Abstellkammer. Angeboten hatte es mir ein Typ, den ich kurz nach meiner Ankunft in Berlin in der U-Bahn kennengelernt hatte. Eine Woche lebte ich dort.

Wo wohnst du jetzt?

In Kreuzberg.

Magst du dein Viertel?

Ich liebe es sogar! Ich verbringe viel Zeit am Kotti und gehe oft spazieren. Vorher bin ich immer mit dem Fahrrad gefahren, bis es mir vor Kurzem geklaut wurde.

Was sind deine Lieblingsorte?

Ich mochte das TIMES, als es noch geöffnet hatte. Zur Zeit hänge ich oft im KATER HOLZIG, in der ROTEN ROSE, im KUMPELNEST und im SÜDBLOCK ab. Im SÜDBLOCK gibt es die besten Pastrami-Sandwiches der Stadt.

Gehst du oft feiern?

Und ob. Wahrscheinlich sogar etwas zu viel – meine Knöchel sind ziemlich im Arsch.

Im Video zu „Aaron“ sieht man dich mehrfach mit einer Flasche Bier in der Hand. Trinkst du gern Bier?

Yeah! Am liebsten STERNBURG. Oder AUGUSTINER.

Denkst du, dass Berlin ein guter Ort für Musik ist?

Das kommt ganz drauf an. Wenn es um Livemusik geht, ist die Stadt absolut schrecklich. Es gibt kaum vernünftige Läden und eine sehr kleine Szene. Die Zeiten scheinen sich jedoch zu ändern. Zumindest kommen inzwischen mehr Bands vorbei, wenn sie auf Tour sind.

Seit wann machst du Musik?

Seit ich 13 oder 14 Jahre alt bin. Eigentlich wollte ich immer Comiczeichner werden, doch mit der Pubertät kam alles anders.

Wie lange gibt es DAN BODAN?

Seit ich in Berlin wohne. In Montreal habe ich ebenfalls Musik gemacht, die war aber um einiges lauter. Mein Projekt damals hieß NOOT. Nach meinem Umzug nach Berlin habe ich mich zuerst auf die Kunst konzentriert. Inzwischen schreibe ich wieder Songs. Diesmal aber unter anderem Namen, weil sich mein Sound so verändert hat.

Was sind deine musikalischen Einflüsse?

Meine Freunde und die Musik, die sie mir zeigen. Ich versuche das aber nicht allzu sehr zu analysieren.

Wie würdest du deine Musik beschreiben?

Das kommt ganz auf den Track an. Aber für gewöhnlich versuche ich Musik zu machen, die nach Weltraum klingt, oder wie eine temporäre autonome Zone. Alles ist verrückt und ruhig zugleich. Dennoch funktioniert es. Aber nur, bis der Song zu Ende ist.

Was wäre ein guter Moment, um deine Musik zu hören?

Definitiv, wenn du nach einer halben Flasche Rotwein in emotional aufgewühlter Stimmung vor dem Laptop sitzt, deinen Facebook- und Twitter-Status checkst und dich von den Schlagzeilen des CNN News Feed berieseln lässt.

Wer war der erste Star, in den du verknallt gewesen bist?

JONATHAN TAYLOR THOMAS! lol

Wie findest du GRIMES?

Einfach toll. Vor allem wegen ihres Modestils und der K-Pop-Zitate. Außerdem ist sie eine großartige Produzentin, die mehr draufhat als die meisten Typen in ihrem Genre. Vielleicht produziert sie ja eines Tages einen meiner Tracks oder gibt mir ein paar Styling-Tipps. Das wäre echt cool.

Bist du ein Mode-Fan?

Je nachdem. Ich mag Style und Klamotten. Was ich allerdings nicht ausstehen kann, sind all die komischen Leute, die sich im Modebusiness tummeln.

Gibt es einen Designer, den du besonders magst?

Meine beste Freundin ARIELLE DE PINTO macht tollen Schmuck, NHU DUOUNG finde ich ebenfalls großartig. Ansonsten stehe ich eher auf Sportswear als auf Ready to Wear. Meine Lieblingsmarken sind NIKE, UNDER ARMOUR und STONE ISLAND.

Spielst du gern live?

Auf jeden Fall. Singen hat für mich eine therapeutische Funktion. Was mich allerdings runterzieht, ist, in einer Venue mit schlechter Anlage zu spielen oder mit einem Tontechniker zusammen zu arbeiten, der mich nicht mag.

Ich habe gelesen, dass du oft in Galerien und an anderen untypischen Orten auftrittst?

Das liegt an meinen Kontakten. Ich bin eher in der Kunstwelt zuhause.

Gibt es einen Grund dafür, warum du bei Konzerten ohne Band auf der Bühne stehst?

Ich trete ja nicht immer solo auf. Bei meinen letzten Shows hatte ich immer einen DJ dabei. Ich arbeite auch gern mit anderen Musikern zusammen, dann allerdings nicht in einem klassischen Bandkontext. Ich bevorzuge es, über die Ferne mit ihnen zu kollaborieren, ihnen etwas zu schicken, an dem ich gearbeitet habe, zu sehen, was sie daraus machen, und dann solange daran zu feilen, bis wir es beide gut finden.

Hat die Entscheidung zu einem Solo-Projekt auch finanzielle Gründe?

Es ist sicherlich lukrativer, mit weniger Leuten zu spielen. Viel wichtiger finde ich aber den Nervenkitzel. Wenn du versagst, gibt es keinen, der dir helfen kann.

Würdest du es dennoch vorziehen, eine Band auf der Bühne zu haben als einen Computer?

Ich bin mit der derzeitigen Zweierkonstellation zufrieden. Es ist toll, einen Hype-Man zu haben, der mich unterstützt. Ich kann mich auf meine Performance konzentrieren, während er sich um die Musik kümmert.

Wann erscheint dein erstes Album?

Hoffentlich bis Mitte 2013. Die Hälfte der Songs sind bereits geschrieben, jetzt spreche ich mit verschiedenen Produzenten. Ich habe genaue Vorstellungen davon, wie die Platte am Ende klingen soll.

Wirst du das Album auf deinem eigenen Label MANGROVE veröffentlichen?

Das weiß ich noch nicht. Ich habe keine Verträge mit anderen Labels, daher könnte ich diesen Weg gehen. Vorausgesetzt, es ergibt Sinn.

Warum hast du dein eigenes Label gegründet?

Ich wollte eine eigene Plattform haben, auf der ich meine Musik veröffentlichen kann. Einmal damit angefangen, habe ich gemerkt, dass es mir genauso viel Spaß macht, die Musik anderer Leute rauszubringen. Leider sind die Geschäfte bisher nicht so gut gelaufen, weshalb ich gerade kein Geld habe, um weitere Projekte zu realisieren.

Hast du all deine Songs ebenfalls selbst aufgenommen?

Die ersten Sachen schon. Sie wurden aber von meinem Freund ANTTI UUSIMAKI abgemischt. Die darauffolgende Single habe ich mit M.E.S.H produziert, was eine tolle Erfahrung gewesen ist.

Welche Bedeutung hat das Internet für deine Arbeit? Du scheinst dich dort sehr wohl zu fühlen.

Im Netz zu surfen gehört für mich zum Alltag. Es ist die normalste Sache der Welt.

Ist das Internet nützlich für Musiker?

Auf jeden Fall. Es kann ihnen aber auch schaden. Am Ende muss das jeder mit sich selbst ausmachen.

Heißt du wirklich DAN BODAN?

Nein! Mein richtiger Name ist twink_kid92!

Links: tumblr / DFA / MANGROVE

(Fotos: TONJE THILESEN)

 

Gespräche

SEBASTIAN COWAN hat eine simple Lebensphilosophie: „Stehe früh auf und nutze den Tag”. Sein Erfolg gibt ihm Recht. Gerade mal 25 Jahre alt ist der gelernte Toningenieur aus Vancouver Chef seines eigenen Labels ARBUTUS RECORDS und Manager von Kritikerliebling GRIMES. Davor war er Betreiber einer der wichtigsten Live-Venues in Montreal, dem LAB SYNTHÈSE, das er im Alter von 21 Jahren mit ein paar Freunden eröffnete. Im SKYPE-Gespräch mit CARTOUCHE sprach SEBASTIAN über den Konzertraum, sein Label ARBUTUS RECORDS und die Musikszene Montreals. Auch verriet er, warum er so gerne früh aufsteht.

Guten Morgen SEBASTIAN, wie geht es dir?

SEBASTIAN: Ganz gut soweit. Ich habe schon einiges erledigt heute, ich war bei der Bank und auf der Post und habe gerade ein zweites Mal gefrühstückt. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch im Büro von ARBUTUS RECORDS.

Du stehst also gerne früh auf? 

Richtig, gewöhnlich schon um sieben! Ich liebe den Morgen, ich kann dann besser arbeiten. Abends gehe ich zeitig ins Bett.

Das klingt sehr vernünftig für jemanden der 25 Jahre alt ist. In Berlin ist man in diesem Alter einen ganz anderen Rhythmus gewöhnt, hier beginnt der Tag in der Regel etwas später.

In Montreal ist das nicht anders. Die meisten meiner Freunde gehen spät ins Bett und schlafen dann aus. Das ist einfach nicht mein Ding. Ich nutze lieber den Tag.

Mit Erfolg. Du warst Betreiber einer erfolgreichen Musikvenue und hast jetzt dein eigenes Label. Wann wurde deine Leidenschaft für Musik geweckt?

In der Highschool. Einige meiner Freunde waren richtige Musiknerds und steckten mich mit ihrer Begeisterung an. Ich hörte alles, was ich kriegen konnte. Kurz darauf fing ich an, in mehreren Bands Schlagzeug zu spielen. Als ich dann später in London studierte, machte ich elektronische Musik. Die Alben, die WARP RECORDS in den 90ern herausgebracht hat, hörte ich damals rauf und runter.

Wie kamst du auf die Idee, eine eigene Venue in Montreal aufzumachen?

Nach meinem Studienabschluss in London wollte ich mein eigenes Ding durchziehen. Die Idee für die Venue stand bei mir uns meinen Freunden schon länger im Raum. Die Frage war nur wo. Wir haben uns für Montreal entschieden, weil die Stadt der perfekte Ort für Kunst und Musik ist. Das Leben hier ist so billig, dass du auch ohne Job gut über die Runden kommst. Acht Monate nachdem wir das LAB SYNTHÈSE aufgemacht hatten, beging einer von uns, mein bester Freund DAVID, Selbstmord. Das war ein großer Wendepunkt in meinem Leben. Ich verließ Montreal und ging zurück nach Vancouver. Die anderen beiden taten es mir gleich.

Und was wurde aus dem LAB SYNTHÈSE?

Das hatte ich eigentlich schon abgehakt. Ich wollte nicht mehr zurück nach Montreal. Doch dann rief mich eines Tages mein Bruder ALEX an und sagte mir, dass in dem Projekt noch eine Menge leben stecke. ALEX war kurz zuvor in das Lagerhaus gezogen, in dem sich die Venue befand und in dem damals alle wohnten. Seine Worte hatten mich überzeugt. Ich sagte mir, es ist besser etwas zu tun, als nur rumzuhängen. Nach meiner Rückkehr hatte ich den Plan aus dem LAB SYNTHÈSE ein großes Gemeinschaftsprojekt zu machen. Auf jedem Konzert sollte mindestens ein Freund von mir spielen. In dem Zeitraum wuchs mein Freundeskreis rasant.

Warum hat du ARBUTUS RECORDS gegründet?

Bei LAB SYNTHÈSE ging es nach DAVIDS Tod darum, Freunden zu helfen und ihnen eine Plattform zu bieten. Da ich sie auch außerhalb des LAB SYNTHÈSE unterstützen wollte, beschloss ich ein Label aufzumachen. Mit der Zeit wurde das Label immer wichtiger für mich, weswegen ich mich dazu entschied, die Venue dicht zu machen. Diese Entscheidung war wie so viele andere zuvor rein intuitiv. Ich denke über solche Dinge nicht lange nach, es passiert einfach.

Wie laufen die Geschäfte bei ARBUTUS RECORDS?

Ich kann mich nicht beklagen, wir wachsen stetig! Zwar wirft das Label noch kein Geld ab, aber ich bin sicher, das ist nur eine Frage der Zeit.

Wovon lebst du dann im Moment?

Ich verdiene mein Geld als Tontechniker in Clubs. Aber ich glaube, ich werde das bald sein lassen. Auch wenn es nicht sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, ist es sehr anstrengend, zusätzlich zu meinem Job bei ARBUTUS RECORDS die ganze Nacht zu arbeiten. Ich brauche Zeit, um mich auszuruhen.

Ich finde es sehr mutig gerade jetzt ein Label zu gründen. Schließlich stecken Musiklabels seit Anbruch der digitalen Revolution in ihrer größten Krise.

Labels haben in der Tat an Bedeutung verloren, weil man sich heute um vieles selbst kümmern kann. Man kann seine Alben zuhause am Computer aufnehmen und anschließend über das Internet vertreiben. Einen PR-Agenten und einen Booker anzuheuern stellt ebenfalls kein großes Problem dar. Das war vorher viel schwieriger. Dennoch können Labels sehr nützlich sein, besonders für kleinere Bands sind sie noch immer eine gute Option.

Inwiefern?

Labels haben in der Regel gute Beziehungen, weil sie schon lange im Business sind. Versuch mal als unbekannter Künstler einen Vertrag mit einem Vertrieb zu den selben Konditionen auszuhandeln, wie WARNER BROTHERS RECORDS sie bekommt – das ist unmöglich!

Dennoch scheinen die Tage klassischer Labels gezählt zu sein. Was macht ihr besser?

Wir verlegen nicht nur Musik, sondern kümmern uns auch ums Management. Das hat klare Vorteile: Da du dem einzelnen Künstler auf allen Ebenen zur Seite stehst, entwickelt sich eine viel engere Beziehung. Dadurch weißt du immer, was der jeweilige Künstler braucht.

Anders als andere Labels verkauft ihre eure Musik nicht nur, sondern bietet an, sie gegen eine Spende oder kostenlos herunterzuladen. Warum?

Das ist einfach: Was einem Künstler am Anfang seiner Karriere am meisten hilft, ist, dass so viele Menschen wie möglich seine Musik hören. Wenn du deine Musik verschenkst, erreichst du selbst diejenigen, die sich gar nicht für die Musik interessieren. Mit dem Debütalbum Geidi Primes von GRIMES sind wir so verfahren und hatten damit großem Erfolg.

Und wie läuft es mit den Spenden?

Auch sehr gut. Jeden Tag spenden im Schnitt zwanzig Leute Geld. Zwar verdienen wir damit nicht so viel wie durch Verkäufe, dennoch sind die Spenden eine gute zusätzliche Einnahmequelle.

Wäre das also ein Modell für die Zukunft?

Die Zukunft liegt eindeutig im Streaming, da Hörer und Künstler davon gleichermaßen profitieren. Die einen können sich Musik kostenlos anhören, die anderen bekommen für jeden gehörten Song einen festen Betrag ausgezahlt.

Seit neuestem kann man einem Sampler mit verschiedenen Bands aus Montreal kostenlos auf der ARBUTUS-Internetseite herunterladen. Sind all die Bands auf dem Sampler ebenfalls Freunde von dir?

Ja, das sind sie. Alle Bands kommen aus dem Umfeld des LAB SYNTHÈSE. Du musst wissen, dass die Bands auch untereinander gut befreundet sind. Viele der Musiker spielen in der Band des anderen. Das liegt zum einen daran, dass wir alle Englisch sprechen und somit eine Minderheit in Montreal sind. Zum anderen leben wir alle im selben Viertel, weshalb wir uns oft sehen. Ich liebe diesen Vibe.

Das klingt in der Tat verlockend. Welche Rolle spielte das Lab Synthèse für die Szene?

Eine sehr große: Die meisten Bands haben im LAB SYNTHÈSE ihre ersten Live-Erfahrungen gesammelt. Andere wiederum waren so begeistert von der Atmosphäre, dass sie ihre eigene Band gründeten. So auch GRIMES. Bevor CLAIRE BOUCHER anfing im LAB SYNTHÈSE abzuhängen, hatte sie hauptsächlich gemalt. Eines Tages zeigte sie meiner damaligen Freundin einen Song, den sie aufgenommen hatte. Ich war so beeindruckt von ihrer Stimme, dass ich sie unbedingt auf ARBUTUS RECORDS rausbringen wollte. Sie willigte ein und so nahmen wir kurze Zeit später ihr Debütalbum Geidi Primes auf.

Wer hat die Nachfolge des LAB SYNTHÈSE angetreten?

Es gibt viele gute Konzerträume in der Stadt. Einer davon ist die Loft-Venue LA BRIQUE. Dort gibt es nicht nur eine Bühne, sondern auch Proberäume und ein Studio. Unser Büro ist dort ebenfalls unterge- bracht. Das Gebäude, in dem sich LA BRIQUE befindet, ist eine ehemalige Textilfabrik, die in den 60ern geschlossen wurde und in den 90ern von Künstler angemietet wurde. Das kennst du sicher auch aus Berlin!?

Richtig, die Stadt ist noch immer ein großer Abenteuerspielplatz. Hast du schon neue Pläne geschmiedet?

Nicht wirklich. Ich mache erstmal mit ARBUTUS RECORDS weiter, schließlich läuft es gerade sehr gut für uns!

Links: ARBUTUS RECORDS / MONTREAL COMPILATION VOL I / VOL II 

Foto: MARILIS CARDINAL

 

Empfehlung

„She’s like Britney at this point. I’m just a stooge”. Besser als JASPER BAYDALA, Mitarbeiter des Labels ARBUTUS RECORDS, hätte man den Hype um CLAIRE BOUCHER aka GRIMES nicht auf den Punkt bringen können. Seitdem die Kanadierin im März ihr drittes Album Visions auf dem renommierten britischen Label 4AD veröffentlicht hat, reißen sich alle um sie. An BOUCHER heranzukommen scheint momentan ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, sodass selbst gute Freunde wie BAYDALA da nicht weiterhelfen können.

Doch ist der Rummel um die Musikerin berechtigt? Um es vorweg zu nehmen: Ja, das ist er in der Tat! CLAIRE BOUCHER hat mit Visions eines der wegweisendsten Alben der vergangenen Jahre aufgenommen. Die Musikerin aus Montreal kommt aus dem Umfeld des Labels ARBUTUS RECORDS und des bereits geschlossenen Musiklofts LAB SYNTHÈSE. Auf ARBUTUS RECORDS erschienen ihre ersten Alben Geidi Primes und Halfaxa, im LAB SYNTHÈSE spielte sie ihre ersten Shows, der Gründer beider Institutionen, SEBASTIAN COWAN, ist ihr Manager. Eigentlich war sie zum Studium nach Montreal gekommen, doch als GRIMES immer mehr Resonanz bekam, schwänzte sie die Kurse, bis sie irgendwann von der Uni flog.

BOUCHERS Musik ist glücklicherweise weit weniger klischeebehaftet. Ganz im Gegenteil ist das Besondere an der Kanadierin, dass ihr Sound schwer einzuordnen ist. Es wirkt genialistisch, wie sie 90’s-Ravesynthies mit asiatischen Harmonien kombiniert. Wer nun aber denkt, die Musikerin mache bizarre Weltmusik, der irrt. BOUCHERS Songs strahlen eine hypnotisierende Düsternis aus, die Witchhouse und Goth-Hörer_innen nicht unbekannt sein dürfte. Sie lässt die meisten Witchhouse-Künstler_innen jedoch links liegen, da sie es im Gegensatz zu ihnen schafft, richtige Songs zu schreiben.

BOUCHER selbst bezeichnet ihre Musik als „Post Internet”. Die treffendere Bezeichnung wäre „Cybertechno”. GRIMES macht elektronische Musik, die ein verworrenes Dickicht aus verschiedensten Zitaten und Stilen ist. Sie profitiert von den offenen Archiven des Internets, von dem einfachen und schnellen Zugang auf Musikstile aus der ganzen Welt. In dem Moment, in dem man denkt, man habe das System GRIMES durchschaut, wird man von der Sängerin eines besseren belehrt.

Das liegt auch an ihrem ausgefallenen Songwriting. Die Kanadierin hat ein Händchen für die richtigen Melodien. Zuckersüß können diese sein, eingängig sind sie allemal. Doch anstatt simple Popsongs zu komponieren, bastelt BOUCHER lieber komplexe Gebilde. Immer wieder bricht der Beat los, um in der nächsten Sekunde zu stoppen, einem Pianoriff zu weichen oder sich in eine Fläche aufzulösen. Es gibt Momente, da überlappen sich die Tonspuren, ein Durcheinander aus verschiedenen Stimmen entspinnt sich, hier eine ein Technoriff, dort ein Ravebass. Wenig später sind ein Breakbeat und eine Synthiefläche alles, was BOUCHERS Elfenstimme begleitet. Dass ihre Songs in der Regel nur aus einer einzigen Akkordfolge bestehen, fällt da gar nicht weiter auf.

Schon auf ihrem 2010 erschienen Erstlingswerk Geidi Primes reihte sich ein brillianter Song an den anderen. Auf Visions hat sich daran nichts geändert, nur wirken die Lieder auf ihrem neuesten Album wie aus einem Guss und weniger verspielt. Die düster wabernden Techno-Bässe, die reverbüberladenen Synthie-Flächen und BOUCHERS Stimme harmonieren perfekt miteinnander. Auch ist es der Musikerin gelungen, ihren Gesang weiter zu verfeinern, der sich auf Visions von all seinen Facetten zeigt: Mal ist ihre Stimme ein zartes Hauchen, mal ein jammerndes Jaulen, mal ein druckvolles Schreien. Dabei erreicht sie oft Höhen, die man sonst nur aus chinesischen Opern kennt.

Was über all dem schwebt, das ist BOUCHERS Sinn für die richtige Ästhetik. Alles was die kanadische Musikerin macht, hat einen starken Wiedererkennungswert. Das gilt sowohl für ihre Musik als auch für ihre Videos. Während sie sich im Video zu „Crystal Ball” als schwarz gekleidete Waldhexe mit einem turmhohen Hut auf dem Kopf präsentiert, sitzt sie im Clip zu „Oblivion” in der Umkleide-Kabine eines Footballstadions umgeben von durchtrainierten Männerkörpern und hüpft mit einer Gruppe euphorisierter Fans auf der Tribüne.

Es besteht kein Zweifel: CLAIRE BOUCHER hat das Zeug dazu, richtig groß zu werden. Größer noch als BRITNEY SPEARS. Denn was BOUCHER der ehemaligen Ikone unzähliger Teenager voraus hat, sind ihr Charme und ihre Lockerheit. Chapeau Miss BOUCHER!

Links: Arbutus Records / Free Download Geidi Primes & Halfaxa