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RANGERS – Pan Am Stories

Es ist schon wieder Dezember, jener Monat, in dem sich hunderte, ja tausende von Musikjournalisten hierzulande und irgendwo dieselbe Frage stellen, jene Frage, die zu stellen an sich irgendwie schon merkwürdig anmutet, die jedoch in der ganzen Flut von Jahresrückblicken nicht zu stellen schlicht niemand wagt: War 2011 ein gutes Jahr für Musik? Gut im Sinne von bahnbrechend, neudefinierend, relevant?

„Eher nicht“, würde SIMON REYNOLDS wohl entgegnen, einer der profiliertesten Journalisten der Branche, eher nicht, dies ist jedenfalls das Urteil, dass man REYNOLDS‘ jüngstem Werk entnehmen kann, Retromania: Pop Culture’s addiction to its own past, das im Frühsommer erschienen war und das seitdem Schreiberlinge diesseits und jenseits des Atlantiks beschäftigt, in sämtlichen Zeitungen und Zeitschriften, sogar in Deutschland, jenem Land, das an popmusikalischen Diskursen für gewöhnlich nicht teilnimmt und sich lieber dem neuesten Album von ICH + ICH widmet. Das war diesmal anders, jeder wollte dabei sein bei der großen Debatte um REYNOLDS’ Thesen, auch der Spiegel, auch die Spex, und so lässt sich immerhin schon einmal festhalten: Es kann kein ganz irrelevantes Jahr gewesen sein, was den Fortgang der Popmusik angeht, denn immerhin hatten wir endlich wieder was zum Reden.

Was REYNOLDS über fast 500 äußerst angenehm zu lesende, unfassbar informative Seiten ausbreitet ist im Grunde nicht mehr als dies, erstens: Es ist alles schon einmal dagewesen, und zweitens: Auch früher haben sich die Musiker schon auf früher bezogen, und drittens: Nur selten war es anders, neu, aufregend – besser – und zwar während der Ära des Post-Punk Ende der Siebziger und in der Hochzeit des Rave Anfang der Neunziger, wohl nicht ganz zufällig zwei Phasen, die REYNOLDS als junger Mann nicht nur miterlebt, sondern auch mit zwei viel beachteten und gefeierten Büchern gewürdigt hat. Seit ein paar Jahren nun ist die Popmusik endgültig in ihrer eigenen Geschichte gefangen, begünstigt durch das schier unerschöpfliche Archiv namens Internet, Revival reiht sich an Revival, und Innovation ist nur noch eine fade Erinnerung an ein glorreiches, verblasstes Gestern. Und sicher, wer möge da noch widersprechen? Ist die Popkultur das nicht tatsächlich: nur noch rückwärtsbezogen und selbstreferentiell?

Doch auch Rave und Post-Punk kamen nicht aus dem Nichts (letzterer schon gar nicht) – wie jede andere Kulturtechnik auch bezieht sich eben auch in der populären Musik alles Neue immer schon auf eine Matrix aus Referenzen an schon Gewesenes, und erst ein genaues Hinschauen erkennt die unscheinbare Grenze zwischen Retromanie – die man kritisieren mag oder nicht – und Retrophilie, die Reminiszenz als bloßen Ausgangspunkt nimmt für etwas Neues. Etwas solchermaßen Unerhörtes haben auch jene (zumeist amerikanischen) Künstler geschaffen, die der Musikjournalist DAVID KEENAN vor gut zwei Jahren unter den amorphen Begriff des Hypnagogic Pop zusammenfasste, Pop also, der sich im kulturellen Mainstream der Achtziger und Neunziger bedient und mit den Mitteln des Noise verwaschene Klangteppiche vor dem Hörer ausbreitet, um undeutlich erinnerungsgetränkte, traumgleiche Zustände zu evozieren.

Einer der aufregendsten Musiker dieser inzwischen aus dem Underground hervorgetretenen Strömung ist der Texaner JOE KNIGHT, der inzwischen an der Westküste der USA beheimatet ist und der sich dort mit seinem Projekt RANGERS und seinem Künstlerkollektiv BRUNCH GROUPE einen Namen gemacht hat als einer derjenigen, die das Spiel mit den popkulturellen Referenzen verinnerlicht haben und trotzdem – oder gerade deshalb – interessante, spannende und neuartige Popmusik machen. Schon für sein Debüt Suburban Tours (Olde English Spelling Bee, 2010), eine bedrückend-klaustrophobische Reise durch die Vororte sterbender amerikanischer Großstädte, war KNIGHT im letzten Jahr zu Recht euphorisch gefeiert worden.

Das kürzlich bei NOT NOT FUN erschienene zweite RANGERS-Album Pan Am Stories setzt an den verwaschenen Texturen von Suburban Tours an und nimmt auch den Eskapismus des Hypnagogic Pop wieder auf, transzendiert ihn aber zugleich durch Überwindung der losen Form des Genres zugunsten mitunter fast klassischer Popsongs, sogar den Gesang traut sich KNIGHT nun zu. Das Album verharrt auch keineswegs in den Achtzigern, sondern orientiert sich an Topoi sowohl des Soft- als auch des Prog-Rock ab den Siebzigern, an Genres also, die vor wenigen Jahren jeder halbwegs ernstzuehmende Künstler noch unter allen Umständen gemieden hätte. Mit einer Spielzeit von fast 73 Minuten kommt Pan Am Stories sogar vom Umfang her an die großen Konzeptwerke jener Dekade heran. Doch auch jenes „Früher“, das hier sichtbar wird, bleibt kein statischer Bezugspunkt, sondern wird ins „Jetzt“ übertragen, in Musik, die ihren Ort ohne Zweifel im Jahr 2011 hat. Dass dies alles weder sperrig noch unbequem wirkt, sondern im Gegenteil wie aus einem Guss erscheint und überhaupt Popmusik im besten Sinne ergibt, unterstreicht nur noch einmal das immense Talent, mit dem JOE KNIGHT gesegnet ist.

Noch einmal also: War 2011 ein gutes Jahr für Musik? Mit einem Album wie Pan Am Stories kann es zumindest kein ganz schlechtes gewesen sein. Und übrigens: Auch SIMON REYNOLDS ist ein großer Fan von RANGERS.

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HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter No Fear of Pop und schreibt auch sonst hier und da über Musik.